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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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heranwachsender Junge oder, wahrscheinlicher, eine Frau. Möglicherweise sogar jemand in einem Rollstuhl. Ein Partner beim Mord – wie Ian Brady und Myra Hindley.« Carol schob die Blätter des Profils zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Tony sagte nichts. Als sie ihn anschaute und sein ausdrucksloses Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich nehme an, Sie haben selbst auch an diese Möglichkeit gedacht. Ich frage mich ja nur, ob wir sie im Auge behalten sollten.«
    »Entschuldigung, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als ob ich Ihren Hinweis ignorieren würde«, sagte Tony rasch. »Ich habe nur nachgedacht und ihn gegen das, was wir wissen, und das, was ich im Profil dargestellt habe, abgewogen. Eine meiner ersten Überlegungen war, ob wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben oder nicht. Beim Herausarbeiten der größten Wahrscheinlichkeit bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es sich um einen Einzeltäter handelt. Zum einen sind Fälle wie die Moor-Morde, bei denen zwei Leute als Team zusammenarbeiten und ihre Greueltaten begehen, extrem selten. Zum anderen würde ich größere Variationen in der Methodik und der Pathologie erwarten, wenn zwei Leute beteiligt wären; es ist kaum anzunehmen, daß ihre Phantasien so exakt übereinstimmen. Aber es ist interessant, daß Sie diesen Punkt zur Sprache bringen. In einer Hinsicht haben Sie recht. Wenn er mit einer Frau zusammenarbeiten würde, wäre eher erklärbar, wie er sich an die Opfer heranmachen konnte, ohne Gewalt anwenden zu müssen.« Tony blickte mit gerunzelter Stirn eine Weile vor sich hin. Carol verharrte reglos auf ihrem Stuhl. Schließlich sah Tony sie an und sagte: »Ich bleibe bei meinem Einzeltäter. Ihre Idee ist interessant, aber ich sehe keine überzeugenden Hinweise, die mich von meinem doch sehr wahrscheinlichen Szenario abbringen könnten.«
    »Okay, die Sache ist damit erledigt«, sagte Carol ruhig. »Und nun zu meiner nächsten Frage. Haben Sie an die Möglichkeit gedacht, daß es sich um einen Transvestiten handeln könnte? Wie Sie gerade sagten, wäre es einer Frau leichter möglich, sich an die Opfer heranzumachen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Und wenn diese Frau ein verkleideter Mann wäre? Es hätte doch denselben Effekt.«
    Tony sah im ersten Augenblick verblüfft aus. »Sie sollten sich überlegen, ob Sie sich nicht bei der Nationalen Einsatzgruppe zur Erstellung von Verbrecherprofilen bewerben wollen, wenn sie schließlich aufgestellt ist«, sagte er, offensichtlich, um Zeit zu gewinnen.
    Carol grinste. »Mit Schmeicheleien kommen wir nicht weiter.«
    »Ich meinte das ernst. Sie haben das Zeug dazu, das man bei dieser Arbeit braucht. Sehen Sie, ich bin natürlich nicht unfehlbar. An einen Transvestiten habe ich nicht gedacht. Warum habe ich diese Möglichkeit nicht berücksichtigt?« überlegte er laut. »Es muß eine unterbewußte Reaktion bei mir gegeben haben, die mich davon abhielt, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, ehe sie überhaupt in mein Bewußtsein vorgedrungen ist …« Carol wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor. »Nein, einen Moment bitte, lassen Sie mich das durchdenken.« Er fuhr sich wieder mit den Fingern durchs Haar.
    Sie ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und dachte: Er ist ebenso arrogant wie alle anderen, unfähig, zuzugeben, daß ihm etwas entgangen ist. Nein, hör auf, dich überlisten zu wollen, er ist anders.
    »Richtig«, sagte Tony schließlich, und in seiner Stimme schwang tiefe Zufriedenheit mit. »Wir haben es mit einem sexuellen Sadisten zu tun, einverstanden?«
    »Einverstanden.«
    »Sadomasochismus ist die Gewaltform des sexuellen Fetischismus. Aber Transvestismus ist das diametrale Gegenteil davon. Das Fernsehen möchte uns eine angeblich schwächere Rolle der Frau in unserer Gesellschaft vorgaukeln. Der Transvestismus wird gestützt von dem Glauben, daß Frauen über eine sehr subtile Macht verfügen – die Macht der Eigenheit ihres Geschlechts. Sie ist meilenweit von der brutalen Zufügung und Erduldung von Schmerz und Machtausübung des Sadomasochismus entfernt. Und das ist nicht etwa eine Erkenntnis, die auf phantasievollen Fernsehfilmen beruht. Die Opfer davon zu überzeugen, daß sie es mit einer Frau zu tun haben und nicht mit einem verkleideten Mann, setzt voraus, daß der Killer ein perfekter Verkleidungskünstler sein müßte. Aber er müßte zugleich auch ein sexueller Sadist sein, und das wäre einzigartig in meiner praktischen psychologischen Erfahrung. Diese beiden

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