Das Lied der Sirenen
horchend im Wagen sitzen. Der beißende Wind vom Hochmoor raschelte in den verwilderten Hecken, hin und wieder sang ein Vogel. Aber es waren keinerlei Geräusche zu hören, die von Menschen stammten, nicht einmal ein ferner Verkehrslärm von irgendwelchen Straßen.
Ich stieg aus dem Jeep und schaute mich um. Das eine Ende des Schafstalls war zusammengestürzt, ein einziger Haufen aus zerbrochenen Steinen, aber es freute mich, daß es keine Anzeichen für gelegentliche menschliche Besuche gab – keine Überreste von Picknicks, keine verrottenden Bierdosen, keine zerknüllten Zeitungen, keine Zigarettenstummel, keine gebrauchten Kondome. Ich ging zum Cottage, schloß die Tür auf und trat ein.
Es hatte nur zwei Zimmer im Erdgeschoß und zwei im Obergeschoß. Im Inneren unterschied es sich erheblich von dem gemütlichen Farmhaus, das ich in Erinnerung hatte. Alles, was die persönliche Note ausgemacht hatte – die Fotos, der schmückende Krimskrams, die ziselierten Pferdeplaketten aus Messing, die Antiquitäten –, war verschwunden, in Kisten verpackt und einer Spedition zur Lagerung übergeben worden, eine für die Bewohner von Yorkshire sehr typische Vorsichtsmaßnahme. In gewisser Weise erleichterte mich das; es gab hier nichts zu sehen, was Erinnerungen heraufbeschwören konnte, die sich störend auf mein Vorhaben auswirken würden. Dieses Haus war eine leere Schreibtafel, auf der alle Demütigungen, Peinlichkeiten und Qualen ausgewischt waren. Die Person, die ich einmal gewesen war, gab es nicht mehr.
Ich ging durch die Küche zur Vorratskammer. Die Regale waren leer. Gott weiß, was Doris mit den Dutzenden von Marmelade- und Gurkengläsern sowie den Flaschen mit hausgemachtem Wein angestellt hatte. Vielleicht hatte sie das alles als Vorsichtsmaßnahme gegen fremdartige Nahrung mit nach Neuseeland genommen. Ich stand in der Tür, starrte auf den Boden des Vorratsraums und spürte, wie ein albernes Grinsen mein Gesicht verzog. Meine Erinnerung hatte mich nicht getrogen. Da war die in den Boden eingelassene Falltür. Ich ging in die Hocke und zog an dem rostigen Eisenring. Mit quietschenden Angeln schwang die Tür auf. Als ich die aus dem Keller aufsteigende Luft roch, war ich zunehmend überzeugt, daß die Götter auf meiner Seite waren. Ich hatte befürchtet, sie würde feucht, schal und stinkend sein. Statt dessen war sie kühl und frisch, roch leicht süßlich.
Ich zündete meine Camping-Gaslaterne an und stieg vorsichtig die Steinstufen hinunter. Das Licht der Laterne erhellte einen großen, etwa sechs Meter breiten und neun Meter langen Raum. Der Boden war mit Steinplatten ausgelegt, und entlang einer der Wände befand sich eine breite Steinbank.
Ich hielt die Lampe höher und sah jetzt die soliden Deckenbalken. Als einziges im Raum war der Verputz der Decke zwischen den Balken in desolatem Zustand. Ich konnte das jedoch leicht mit Mörtel wieder in Ordnung bringen und würde damit auch erreichen, daß kein Licht durch das Lattengerüst nach oben drang. Im rechten Winkel zur Steinbank ragte ein Wasserhahn aus der Wand, und im Boden war ein Abfluß eingelassen. Ich erinnerte mich, daß die Farm ihr Wasser aus einer eigenen Quelle bezog. Der Wasserhahn war festgerostet, aber es gelang mir schließlich, ihn aufzudrehen, und nach kurzer Zeit strömte klares, sauberes Wasser heraus. Neben der Treppe stand eine abgenutzte hölzerne Werkbank, komplett mit Schraubstöcken und Zwingen, und darüber hing Harrys Werkzeug in ordentlichen Reihen an der Wand. Ich setzte mich auf die Steinbank und beglückwünschte mich. Es bedurfte nur weniger Stunden Arbeit, um diesen Keller in einen Kerker zu verwandeln, der weitaus besser seinem Zweck dienen würde als alles, was einschlägige Videospiel-Programmierer je auf den Markt gebracht hatten. Jedenfalls brauchte ich mir keine Gedanken für eine Schwachstelle zu machen, die meinen Abenteurern die Flucht ermöglichen würde.
Ich fuhr täglich in meiner Freizeit zur Farm, und am Ende der Woche hatte ich die Arbeiten abgeschlossen. Es war nichts Kompliziertes zu tun gewesen. Ich hatte das Vorhängeschloß und die Riegel an der Falltür repariert, die Decke des Kellerraums verputzt und die Wände mit mehreren Schichten weißer Farbe getünscht. Ich wollte den Raum so hell wie möglich haben, um eine gute Qualität der geplanten Videoaufnahmen sicherzustellen. Ich hatte sogar eine Leitung vom zentralen Schaltkasten in den Keller gelegt, um mit Elektrizität versorgt zu
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