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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Überholspur ein. Der Tacho zeigte fünfundneunzig Stundenmeilen, doch dann ging Brandon ein wenig vom Gas.
    »Ist er wieder auf Temple Fields zurückgekommen?« fragte Tony.
    Brandon warf ihm einen erstaunten Blick zu. Tony schaute geradeaus und runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie das?« fragte Brandon.
    Da war eine Gegenfrage, auf deren Beantwortung Tony nicht vorbereitet war. »Nennen Sie es Intuition«, wich er aus. »Ich nehme an, beim letztenmal hatte er Angst, Temple Fields könnte ein wenig zu heiß für ihn geworden zu sein. Indem er die dritte Leiche in Carlton Park finden ließ, rückte er Temple Fields aus dem Mittelpunkt des Interesses, hielt die Polizei davon ab, sich nur auf einen Ort zu konzentrieren, und versprach sich wohl auch davon, die Wachsamkeit der Leute ein wenig einzuschläfern. Aber er mag Temple Fields, sei es, weil er sich dort gut auskennt oder weil es seine Phantasie anregt. Vielleicht aber bedeutete es ihm auch aus irgendeinem Grund etwas«, überlegte Tony laut.
    »Kommen Sie jedesmal mit einem halben Dutzend verschiedener Hypothesen, wenn jemand Sie mit einer Tatsache konfrontiert?« fragte Brandon und ließ seine Lichthupe aufblitzen, damit der BMW vor ihm von der Überholspur fuhr. »Mach den Weg frei, du Bastard, oder ich hetzte dir die Verkehrspolizei auf den Hals«, schimpfte er.
    »Ja, das versuche ich«, antwortete Tony. »So gehe ich bei meiner Arbeit immer vor. Nach und nach führen dann neue Erkenntnisse dazu, daß ich einige meiner ursprünglichen Annahmen ausmerzen kann. Und so beginnt sich schließlich ein Raster zu formen.« Daraufhin schwieg er und malte sich bereits aus, was er am Tatort vorfinden würde. Sein Magen flatterte, seine Muskeln waren angespannt wie bei einem Musiker vor einem Konzert. Im Normalfall bekam er stets nur die sterilen, von anderen vorgetragenen Schilderungen der Tatorte zu hören und die Bilder zu sehen. Wie gut der Polizeifotograf und die anderen Polizeibeamten ihre Arbeit am Tatort auch gemacht hatten, es waren immer die Versionen anderer Leute, die er für seine Folgerungen übersetzen mußte. Diesmal würde er so nahe bei einem Mörder sein wie nie zuvor. Für einen Mann, der sein Leben hinter dem Schild akademischer Verhaltensweisen verbrachte, war es eine Offenbarung, direkt an der Fassade eines Mörders kratzen zu können.
     
    Carol sagte inzwischen schon zum elftenmal: »Kein Kommentar.« Penny Burgess kniff den Mund zusammen und schaute sich verzweifelt um, ob sie vielleicht jemand anderen von der Polizei erwischen konnte, bei dem ihre Fragen nicht wie an einer Steinmauer abprallten. Popeye Cross mochte zwar ein chauvinistisches Schwein sein, aber er salzte seine belehrenden Kommentare doch meistens mit ein paar verwertbaren Aussprüchen. Sie wollte es jedoch nicht wahrhaben, daß sie bei Carol kein Glück hatte. Also nahm sie einen neuen Anlauf.
    »Wo ist die schwesterliche Verbundenheit geblieben, Carol?« beschwerte sie sich. »Kommen Sie, lassen Sie mich nicht hängen. Es muß doch außer ›Kein Kommentar‹ irgendwas geben, das Sie mir sagen können.«
    »Es tut mir leid, Mrs.Burgess. Das, was Ihren Lesern am wenigsten vorgesetzt werden sollte, sind unsachliche Spekulationen. Ich verspreche Ihnen, sobald es konkrete Dinge zu sagen gibt, werden Sie die erste sein, die ich informiere.« Carol milderte ihre Worte zusätzlich mit einem Lächeln.
    Sie drehte sich um und wollte gehen, aber Penny hielt sie am Ärmel ihres Mantels fest. »Und ganz informell?« bettelte sie. »Nur zu meiner Orientierung? Damit ich nicht was schreiben muß, das mich wie einen Trottel aussehen läßt. Carol, ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, wie das bei uns in der Redaktion läuft. Ich bin von Männern umgeben, die sich vor Freude in die Hose machen, wenn ich wieder mal was vermaßle.«
    Carol seufzte. Bei diesem Argument war es schwer, nicht umzukippen. Nur der Gedanke, was Tom Cross im Büro daraus machen würde, bewog sie, bei dem Entschluß zu bleiben, nichts verlauten zu lassen. »Ich kann und darf nicht«, erwiderte sie. »Und im übrigen, soweit ich das beurteilen kann, haben Sie sich bisher doch gut geschlagen.« Noch während sie das sagte, kam ein ihr bekannter Range Rover um die Ecke gefahren. »O Scheiße«, murmelte sie und riß sich aus dem Griff der Reporterin los. Was sie auf keinen Fall brauchen konnte, war, daß John Brandon glaubte, sie sei die Polizeiquelle hinter der Serienmörder-Hysterie, die die
Sentinel Times
verbreitete.

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