Das Lied der Sirenen
zugleich dafür, daß sie wieder in dieser Wunde herumrührte.
Tony seufzte. »Ich dachte, wir wären übereingekommen, als Freunde miteinander umzugehen. Ich weiß, ich …«
»Sehr schön«, unterbrach sie ihn. Sie wünschte, sie hätte dieses Thema nicht wieder angeschnitten. »Ich kann ein guter Kumpel sein. Wie beurteilen Sie die Chancen von Bradfield Victoria im Pokalwettbewerb?«
Tony rutschte auf seinem Sitz zur Seite und starrte Carol an. Dann sah er das Lächeln in ihren Mundwinkeln, und plötzlich lachten sie beide laut los.
Die neuesten regierungsamtlichen Drohungen an die Gefängnisverwaltungen des Landes hatten dazu geführt, daß die Wärter in Ihrer Majestät Gefängnis Barleigh Dienst nach Vorschrift machten. Das wiederum hieß, daß die Gefangenen dreiundzwanzig Stunden am Tag in ihren Zellen eingesperrt blieben. Stevie McConnell lag auf der Seite auf dem unteren Etagenbett in seiner Einzelzelle. Nach dem Angriff der drei Mitgefangenen auf ihn, bei dem er zwei blaue Augen, einige gebrochene Rippen, eine Unzahl von Blutergüssen und die Art Verletzung der Genitalien davongetragen hatte, die Sitzen zu einer Qual werden ließ, hatte er die Unterbringung in einer Einzelzelle gefordert, was ihm auch gewährt wurde.
Es spielte keine Rolle, wie oft er protestierend hinausschrie, er sei nicht der Schwulenkiller, niemand kümmerte sich darum, weder die anderen Gefangenen noch die Wärter. Er hatte aus den Bemerkungen während der Essensausgabe im Flur erkennen müssen, daß die Wärter ihn genauso verabscheuten, wie das seine Mitgefangenen taten. Und keiner hatte ihm die Zellentür aufgeschlossen und erlaubt, den stinkenden Eimer in der Ecke, in den er seine Notdurft verrichten mußte, auszuleeren. Der Gestank war penetranter und irgendwie auch ekliger als in den vielen öffentlichen Toiletten, in denen Stevie manchmal seine Sexpartner aufgegabelt hatte.
Soweit er es beurteilen konnte, waren seine Zukunftsaussichten absolut düster. Schon allein die Tatsache, daß er hinter Gittern saß, genügte bei den meisten Leuten, ihn zu verurteilen. Wahrscheinlich war alle Welt überzeugt, daß jetzt, nachdem Stevie McConnell im Knast saß, die Serienmorde aufhören würden. Als er nach der ersten Festnahme entlassen worden war, hatte er bei der Arbeit im Fitneßstudio schmerzvoll erfahren müssen, daß sowohl die Kollegen als auch die Kunden einen großen Bogen um ihn machten und sogar jeglichen Augenkontakt mit ihm vermieden. Ein einziger Drink in der Bar in Temple Fields, in der er seit Jahren Stammkunde war, hatte gereicht, um ihm aufzuzeigen, daß auch die Schwulensolidarität auf mysteriöse Weise verschwunden war. Die Polizei und die Medien gingen eindeutig davon aus, daß er der gesuchte schwule Psychopath war. Und bis man den wahren Schwulenkiller gefaßt hatte, würde Bradfield nicht der Ort sein, an dem Stevie McConnell willkommen war. Der Entschluß, sich nach Amsterdam abzusetzen, wo ein Exliebhaber ebenfalls ein Fitneßstudio betrieb, war ihm damals logisch erschienen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß man ihn beschattete.
Die Ironie, daß ihm das alles passiert war, weil er in erster Linie einem Polizisten zu Hilfe geeilt war, ging Stevie nicht aus dem Kopf. Dieser große Geordie-Sergeant war wahrscheinlich dankbar, daß er mit einem Backstein niedergeschlagen worden war, hatte ihn das doch davor bewahrt, das nächste Opfer des Schwulenkillers zu werden. In Wirklichkeit war Stevie McConnell das einzige Opfer der Ereignisse dieser Nacht. Und daran würde sich auch so schnell nichts ändern. Seine geschockte Familie wollte nach Aussagen seines Anwalts wie die anderen nichts mehr von ihm wissen.
Während er so, auf dem Bett liegend, nüchtern seine Zukunftsaussichten beurteilte, kam er zu einem Entschluß. Er rollte sich vom Bett, dabei vor Schmerz das Gesicht verziehend, zog das Jeanshemd über den Kopf und stöhnte auf, als qualvolle Stiche der gebrochenen Rippen durch seine Brust schossen. Mit Zähnen und Fingernägeln zerfetzte er die Nähte des Hemds. Dann ritzte er mit Hilfe des scharfen Endes einer Bettfeder die Ecken des Stoffs ein, so daß er ihn in schmale Streifen reißen konnte, die er zu einem festen Strick zusammenflocht. Er machte an einem Ende eine straffe Schlinge, die er sich um den Hals legte, dann kletterte er auf das obere Bett. Das andere Ende seines kurzen Seils befestigte er am Rahmen des oberen Betts.
Dann, um siebzehn Minuten nach neun an einem sonnigen
Weitere Kostenlose Bücher