Das Lied der Sirenen
hat uns gerade noch gefehlt. Hören Sie, können wir uns morgen irgendwo treffen? Ich lasse mir die Akten der ersten drei Fälle geben und gehe sie heute abend durch. Dann kann ich Sie morgen einweisen.«
»Gut. In meinem Büro um zehn Uhr?«
»Das paßt prima. Wie finde ich zu Ihnen?«
Tony erklärte Carol den Weg und schaute ihr dann nach, als sie zurück durch die Gasse eilte. Eine interessante Frau, und attraktiv, worin ihm die meisten Männer zustimmen würden. Manchmal wünschte er sich, er könnte so unkompliziert reagieren wie andere. Aber er hatte schon vor langer Zeit den Punkt überschritten, bei dem er es sich erlaubt hätte, eine Frau wie Carol Jordan attraktiv zu finden.
Es war bereits nach sieben, als Carol ins Präsidium zurückkam. Sie wählte John Brandons Nummer und war freudig überrascht, daß er tatsächlich noch da war. »Kommen Sie zu mir«, sagte er.
Sie war noch überraschter, als sie in der Verbindungstür zu seinem Vorzimmer stand und ihn dabei vorfand, dampfenden Kaffee aus der Glaskanne der Kaffeemaschine in zwei Becher zu gießen. »Milch und Zucker?« fragte er.
»Keins von beiden«, antwortete sie. »Das ist ja eine unerwartete nette Überraschung.«
»Ich habe vor fünf Jahren das Rauchen aufgegeben«, vertraute Brandon ihr an. »Jetzt hält mich nur noch das Koffein aufrecht. Kommen Sie rein.«
Voller Neugier betrat Carol sein Büro. Sie war bisher nie weiter als bis zur Türschwelle gelangt. Die Wände waren wie in allen Büros cremefarben gestrichen, die Möbel die gleichen wie in Cross’ Büro, allerdings mit dem Unterschied, daß hier das Holz gepflegt glänzte, nicht abgenutzt, verschrammt und voller Brandlöcher war und keine verräterischen Ringe heißer Kaffeetassen aufwies. Im Gegensatz zu den meisten anderen höheren Polizeibeamten hatte Brandon die Wände nicht mit Fotos oder gerahmten Zertifikaten aus seiner Polizeikarriere vollgehängt. Statt dessen hatte er sich für ein halbes Dutzend Reproduktionen von Straßenszenen von Bradfield aus der Zeit um die Jahrhundertwende entschieden. Sie waren zwar in kräftigen Farben gehalten, spiegelten aber in ihrer trüben, meist regenverhangenen Darstellung den spektakulären Blick wider, der sich in diesem Moment aus dem Fenster im siebten Stock bot. Der einzige Gegenstand, der den Erwartungen entsprach, war das Foto von seiner Frau und den Kindern auf dem Schreibtisch. Aber selbst das war keine gestellte Studioaufnahme, sondern die Vergrößerung eines Schnappschusses aus dem Urlaub an Bord eines Segelboots. Folgerung: Obwohl Brandon den Eindruck eines rauhbeinigen, unkomplizierten, herkömmlichen Cops zu erwecken sich bemühte, war er in Wirklichkeit unter der Oberfläche weitaus komplizierter und sensibler.
Er ließ Carol auf dem einen von zwei Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz nehmen und setzte sich auf den anderen. »Ich möchte, daß über eine Sache von vornherein Klarheit herrscht«, sagte er ohne jede Vorrede. »Sie unterrichten Superintendent Cross über alle Ihre Erkenntnisse. Er ist der Leiter dieser Morduntersuchung. Ich möchte jedoch Kopien von allen Ihren und Dr.Hills Berichten sehen, und ich möchte, daß Sie mir sämtliche Theorien mitteilen, die Sie beide entwickeln und noch nicht zu Papier bringen wollen. Glauben Sie, daß Sie mit diesem Balanceakt zurechtkommen können?«
Carol hob die Augenbrauen. »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden, Sir«, antwortete sie, »die Praxis.«
Brandon verzog die Lippen zu einem Lächeln. Er hatte schon immer Aufrichtigkeit jedem ausweichendem Gelaber vorgezogen. »Okay. Ich möchte sichergestellt wissen, daß Sie Zugang zu allen Unterlagen jedes einzelnen Mitglieds des Teams bekommen. Wenn es dabei die geringsten Probleme gibt, wenn Sie das Gefühl haben, irgend jemand versuche, Sie und Dr.Hill hinzuhalten, dann möchte ich das wissen, egal, um wen es sich handelt oder wer verantwortlich dafür ist. Ich werde das morgen bei der Besprechung allen bekanntgeben und dafür sorgen, daß keiner noch irgendeinen Zweifel hat, welches die neuen Spielregeln sind. Brauchen Sie ad hoc irgendwas von mir?«
Eine Verlängerung des Tages auf sechsunddreißig Stunden wäre für den Anfang nicht schlecht, dachte Carol erschöpft. Freude an einer Herausforderung war ja gut und schön, aber diesmal sah es so aus, als ob diese Freude vor allem aus mühsamer Plackerei bestehen würde.
Tony schloß die Haustür hinter sich. Er stellte die Aktentasche auf den Boden und
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