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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Bradfield?« fragte Carol in sein Schweigen hinein.
    »Ja, doch … natürlich, ich war nur gerade dabei … einen Fleck auf meinem Schreibtisch wegzuwischen«, stammelte Tony, und sein linkes Bein begann nervös zu zucken wie eine Teetasse in einem rüttelnden Zug.
    »Es tut mir leid, aber ich werde es bis zehn nicht schaffen. Mr.Brandon hat eine Besprechung für das ganze Dezernat angesetzt, und es wäre sicher undiplomatisch, wenn ich nicht daran teilnehmen würde.«
    »Das verstehe ich«, sagte Tony und malte mit der freien Hand abwesend eine Narzissenblüte auf seinen Notizblock. »Es wird schwer genug für Sie werden, als Verbindungsbeamtin zwischen mir und den Polizeioberen zu fungieren, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, nicht mehr zum Ermittlungsteam zu gehören. Machen Sie sich also keine Gedanken wegen unseres Termins.«
    »Vielen Dank. Ich glaube nicht, daß die Besprechung viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Ich komme so schnell wie möglich zu Ihnen. Etwa um elf, ist das in Ordnung?«
    »Ja, das paßt gut«, antwortete er und war erleichtert, daß er nicht allzulange seinen Brütereien ausgesetzt sein würde, ehe sie sich der praktischen Arbeit zuwenden konnten. »Ich habe heute keine Termine mehr, also lassen Sie sich Zeit. Sie bringen bei mir nichts durcheinander.«
    »Okay. Bis dann.«
     
    Carol legte den Hörer auf. So weit, so gut. Tony Hill schien kein Gefangener seines beruflichen Egos zu sein, im Gegensatz zu vielen anderen Experten, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte. Und anders als die meisten Männer hatte er Verständnis für ihre latenten dienstlichen Schwierigkeiten gehabt, hatte Mitgefühl gezeigt, ohne gönnerhaft aufzutreten, und er hatte gottlob einer dienstlichen Vorgehensweise zugestimmt, die ihre Probleme verringern würde. Ungeduldig wischte sie die Erinnerung daran weg, wie attraktiv sie ihn gefunden hatte. Im Augenblick hatte sie weder Zeit noch Lust für eine emotionale Verstrickung. Das Zusammenleben mit ihrem Bruder Michael in einer Wohnung und die Pflege einiger weniger enger Freundschaften forderte alle Energie, die sie aufbringen konnte. Außerdem hatte das Ende ihrer letzten Beziehung zuviel an ihrer Selbstachtung genagt, als daß sie sich ohne weiteres in eine neue stürzen konnte.
    Das Verhältnis mit einem Unfallchirurgen in London hatte ihren Umzug von der Hauptstadt nach Bradfield vor drei Jahren nicht überlebt. Rob vertrat den Standpunkt, daß es, da es ja ihre Entscheidung gewesen war, in den kalten Norden zu ziehen, nun auch ihre Sache war, die Autobahn runter und wieder rauf zu rasen, damit man sich treffen konnte. Er war nicht bereit, seine kostbare Freizeit zu opfern, um den Meilenstand auf dem Tacho seines BMW in die Höhe zu treiben, nur um in eine Stadt zu fahren, deren einzige Attraktion Carol war. Und außerdem waren Krankenschwestern weitaus weniger widerborstig und kritisch, und sie hatten ebensoviel Verständnis für Überstunden und Schichtarbeit wie eine Polizistin, wenn nicht mehr. Sein Egoismus hatte Carol erschüttert, und sie fühlte sich betrogen, wenn sie daran dachte, wieviel Emotionen und Energie sie in ihre Liebe zu Rob investiert hatte. Tony Hill mochte attraktiv, charmant und, wenn sein Ruf zutraf, auch intelligent und kreativ sein, aber Carol war nicht bereit, ihr Herz schon wieder aufs Spiel zu setzen. Wenn es ihr Schwierigkeiten machte, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, dann lag das daran, daß sie sehr gespannt darauf war, was sie von ihm im Zusammenhang mit den Mordfällen lernen konnte, und nicht davon, weil er ihr als Mann gefiel.
    Carol fuhr sich durchs Haar und gähnte. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden war sie exakt siebenundfünfzig Minuten zu Hause gewesen. Zwanzig dieser Minuten hatte sie unter der Dusche verbracht – bei dem vergeblichen Versuch, sich dagegen zu wappnen, daß sie nicht zum Schlafen gekommen war. Den größten Teil des Abends war sie mit dem Ermittlungsteam von Haus zu Haus durch die Straßen von Temple Fields gezogen, um Hinweise von den nervösen Bewohnern zu bekommen. Die Reaktion der Leute hatte von völliger Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit bis hin zu wüsten Beschimpfungen gereicht. Carol war davon nicht überrascht. Diese Gegend kochte über von den widersprüchlichsten Gefühlen.
    Dazu kam, daß die Leute, die im Schwulenmilieu ihr Geld verdienten, nicht daran interessiert waren, daß Polizisten durch das Viertel schwärmten, da dies naturgemäß die Einnahmen verringerte.

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