Das Lied der Sirenen
Und diejenigen, die aktiv ihre homosexuellen Dienste anboten, forderten wütend entsprechenden Schutz durch die Polizei, welche offensichtlich verspätet zu der Erkenntnis gekommen war, daß ein Mörder serienweise schwule Männer umbrachte. Einige der Kunden hatten schreckliche Angst davor, von der Polizei befragt zu werden, weil sie ihr Schwulenleben vor ihren Frauen, Freunden, Arbeitskollegen oder Eltern verheimlichten. Andere wiederum spielten hemmungslos den Macho, brüsteten sich damit, sich niemals in eine Situation zu begeben, in der ein starräugiger Irrer sie abschlachten könnte. Und manche waren versessen darauf, Einzelheiten der Verbrechen zu erfahren, waren auf düstere und, wie Carol fand, obszöne Weise davon fasziniert, was geschehen konnte, wenn ein Mann die Kontrolle über sich verlor. Und zuletzt gab es da noch eine Handvoll kompromißloser lesbischer Sektiererinnen, die kein Geheimnis aus ihrer Schadenfreude machten, daß diesmal Männer die Opfer waren. »Vielleicht verstehen die Kerle jetzt, warum wir so wütend waren, als während der Jagd auf den Yorkshire Ripper ein paar Männer vorgeschlagen haben, man sollte eine abendliche Sperrstunde für Frauen einrichten«, hatte eine dieser Sektiererinnen höhnisch zu Carol gesagt.
Erschöpft und frustriert war Carol dann ins Präsidium gefahren und hatte sich darangemacht, die Akten über die ersten beiden Morde durchzuarbeiten. Es war extrem still im Gebäude gewesen, da die meisten Detectives draußen in Temple Fields Ermittlungen anstellten oder sich ein paar freie Stunden genehmigten, um ihren Alkoholkonsum, ihr Sexleben oder ihr Schlafbedürfnis auf dem üblichen Stand zu halten. Sie hatte mit den Beamten, die die Ermittlungen in den beiden ersten Mordfällen leiteten, bereits kurze Gespräche geführt, und diese hatten ihr widerstrebend die Akten überlassen und zur Bedingung gemacht, daß sie sie gleich als erstes am nächsten Morgen wiederbekamen. Das war genau die Reaktion, die sie erwartet hatte; an der Oberfläche kooperativ, aber in Wirklichkeit darauf aus, ihre Schwierigkeiten nur noch zu vergrößern.
Als sie in ihr Büro gekommen war, war sie entsetzt über die Unmenge an Papier, das überall herumlag. Stapel von Vernehmungsprotokollen und Anhörungsvermerken, gerichtsmedizinische Berichte, Ergebnisberichte pathologischer Untersuchungen und Fotografien begruben alle Möbelstücke unter sich. Warum um Gottes willen hatte Tom Cross es nicht zugelassen, daß HOLMES , das computergestützte Fahndungssystem des Innenministeriums, bereits bei den ersten Morden eingesetzt wurde? Dann wären alle Ermittlungsergebnisse im Computer gespeichert und sauber mit Stichworten und Querverweisen versehen, und sie hätte nur einen der Computerfachleute von HOLMES bitten müssen, die benötigten Unterlagen für Tony auszudrucken. Mit einem Seufzer schloß sie die Tür vor dem Durcheinander und ging durch die stillen Flure zum Büro des wachhabenden Beamten. Brandons Anordnung an alle Dienstränge, sie zu unterstützen, mußte jetzt in Anspruch genommen werden und eine erste Bewährungsprobe bestehen. Ohne die Hilfe zweier weiterer Hände würde sie die Arbeit, die vor ihr lag, niemals schaffen.
Selbst mit der nur widerwillig gewährten Hilfe eines Constables war es sehr mühsam gewesen, das Material zu sichten und bereitzustellen. Carol hatte die Ermittlungsberichte überflogen und alle aussortiert, die möglicherweise bedeutsam waren, und hatte sie dann dem Constable zur Anfertigung von Fotokopien gegeben. Selbst nach dieser Reduzierung des Materials blieb ein beängstigender Stapel zur Bearbeitung durch sie und Tony übrig. Als der Constable um sechs Uhr morgens Dienstschluß hatte, tat eine erschöpfte Carol die Fotokopien in zwei Pappkartons und schleppte sie zu ihrem Wagen. Sie ging noch einmal zurück, nahm sämtliche Fotos von allen Opfern und Fundorten an sich und füllte ein Anforderungsformular für neue aus, damit die Ermittlungsteams schnell wieder Ersatz bekamen.
Erst dann fuhr sie nach Hause. Aber auch dort kam sie nicht zur Ruhe. Nelson wartete hinter der Tür auf sie, strich ihr um die Füße und miaute kläglich, was sie dazu zwang, geradewegs in die Küche und zum Dosenöffner zu gehen. Als sie die Schale mit dem Futter vor ihn hinstellte, starrte er es erst einmal mißtrauisch an. Dann aber erwies sich der Hunger stärker als sein Wunsch, Carol für ihre lange Abwesenheit zu bestrafen, und er verschlang das ganze Futter ohne jede
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