Das Lied der Sirenen
fragte Cross, ganz der joviale Kumpel.
»Sie hat es erwähnt, ja, Sir.« Merrick schaute sehnsüchtig zur Tür, aber es gab keine Rettung, nicht mit Cross’ Hand auf seiner Schulter.
»Ich habe gehört, Sie wollen die Prüfung zum Inspector machen«, sagte Cross.
Merricks Magen verkrampfte sich. »Das ist richtig, Sir.«
»Also werden Sie die Hilfe aller Freunde auf höheren Posten brauchen können, nicht wahr, mein Junge?«
Merrick zwang sich, seine Lippen zu verziehen, und hoffte, Cross würde darin ein Lächeln erkennen können.
»In Ihnen steckt das Zeug zu einem guten Polizisten, Merrick. Sie dürfen nur nicht vergessen, wem gegenüber Sie sich loyal zu verhalten haben. Ich weiß, daß Inspector Jordan in den nächsten Wochen eine vielbeschäftigte Frau sein wird. Sie wird vielleicht nicht immer Zeit haben, mich über die
neuesten
Entwicklungen auf dem laufenden zu halten.« Cross grinste vielsagend. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie mich über alle Entwicklungen informieren. Sie verstehen, was ich meine?«
Merrick nickte. »Jawohl, Sir.«
Cross nahm seine Hand von Merricks Schulter und ging zur Tür. Er öffnete sie, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. »Besonders, wenn sie anfängt, mit unserem verehrten Doktor rumzubumsen«, fügte er hinzu.
Die Tür fiel quietschend hinter ihm ins Schloß. »Du Arschloch, fick dir ja nicht die Eier wund«, sagte Merrick leise, ging zum Waschbecken und schrubbte seine Hände unter dem heißen Wasser.
Tony saß nun schon seit acht Stunden am Schreibtisch, und dennoch hatte er bisher nicht mehr getan, als ein paar Fotokopien von dem »Bericht zur Verbrechensanalyse« zu machen, den er für die vorgesehene Einsatzgruppe entworfen hatte. Er basierte weitgehend auf dem »Fragebogen zur Erfassung von Schwerverbrechen« des FBI und hatte zum Ziel, eine Standardklassifizierung für jeden Aspekt eines Verbrechens festzulegen, vom Opfer bis hin zu den gerichtsverwertbaren Beweisen. Abwesend schob Tony die Fotokopien auf dem Schreibtisch hin und her und ordnete dann die Zeitungsausschnitte zu einem korrekten Stapel. Er rechtfertigte seinen Mangel an Aktivität damit, daß er, so redete er sich ein, sowieso nichts Gescheites tun könne, ehe Carol nicht mit den Polizeiakten käme. Doch, wie gesagt, das redete er sich nur ein.
In Wahrheit gab es gute Gründe dafür, daß er sich nicht konzentrieren konnte. Sie spukte wieder in seinem Kopf herum, diese geheimnisvolle Frau. Am Anfang hatte er sich gepeinigt gefühlt, hatte nicht an den Spielen teilnehmen wollen. Genau wie meine Patienten, dachte er ironisch. Wie oft schon hatte er die Maxime geäußert, daß bei einer Therapie jeder Patient zu einem bestimmten Zeitpunkt nur noch widerstrebend zur Kooperation bereit war? Er hatte die Übersicht verloren, wie oft er in der ersten Zeit den Telefonhörer aufgelegt hatte. Aber sie war hartnäckig geblieben, hatte geduldig und besänftigend ihre Überredungskunst eingesetzt, bis er tatsächlich Entspannung fand und dann sogar mitmachte.
Sie hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Von Anfang an schien sie instinktiv seine Achillesferse zu erkennen, hatte sie aber niemals angesprochen oder gar darauf herumgehackt. Sie hatte alles, was man sich von einer Phantasiegeliebten nur wünschen konnte, beherrschte das Repertoire von zart bis grob. Die Kernfrage für Tony war, ob er das so pathetisch beurteilte, weil er es fertigbrachte, überhaupt eine innere Beziehung zu obszönen Telefonanrufen durch eine Fremde zu haben, oder ob er sich dazu gratulieren sollte, daß er seelisch so gefestigt war und erkannt hatte, was er brauchte und was ihm weiterhalf. Aber er wurde die Angst nicht los, daß er, wenn er nicht bereits abhängig von diesen Anrufen war, sich zumindest dem Risiko aussetzte, dieser Gefahr zu erliegen. Wenn er denn schon unfähig zu einer normalen sexuellen Beziehung war, bedeuteten dann diese Telefonspielchen, daß sich seine sexuelle Konditionierung verschlechterte oder daß er auf dem Weg zur Besserung war? Die einzige Möglichkeit, das zuverlässig herauszufinden, war der Versuch, sich aus der Phantasiewelt zu lösen und in die Realität einzutauchen. Aber er hatte immer noch zuviel Angst vor neuen Demütigungen, um das zu wagen. Im derzeitigen Stadium schien er sich mit der mysteriösen Fremden zufriedengeben zu müssen; sie vermochte ihm das Gefühl zu vermitteln, ein Mann zu sein, zumindest so weit, daß die Dämonen in seinem Inneren in Schach gehalten
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