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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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werden konnten.
    Tony seufzte und griff nach seinem Kaffeebecher. Der Kaffee war kalt, aber er trank ihn trotzdem. Unwillkürlich fing er an, frühere Telefongespräche im Geist durchzugehen. Als ob er das nicht schon in den Morgenstunden wieder und wieder getan hätte, als der Schlaf für ihn so unerreichbar gewesen war wie der Serienmörder von Bradfield. Die Stimme dieser Frau dröhnte in seinen Ohren, wie der zu laut eingestellte Walkman eines Mitfahrers in einem überfüllten Zugabteil. Er versuchte, seine Emotionen abzuschalten und die Anrufe mit der intellektuellen Objektivität zu behandeln, die er bei seiner Arbeit einsetzte. Alles, was er zu tun hatte, war, sich gegen Emotionen zu verschließen, wie er es auch tat, wenn er mit den perversen Phantasien seiner Patienten konfrontiert wurde. Er hatte sicherlich genug Erfahrung, um aufkommende Echos in sich selbst niederhalten zu können.
    Stopp die Stimme. Analysiere. Wer ist sie? Was ist ihre Motivation? Vielleicht machte es ihr ebenso wie ihm einfach nur Spaß, in verwirrten Köpfen herumzustochern. Das würde wenigstens erklären, wie sie seine Barrikaden überwunden hatte. Sie war jedenfalls anders als die Frauen, die sich für die Arbeit bei diesen schäbigen Telefonsex-Diensten hergaben. Bevor er die Studie für das Innenministerium begonnen hatte, war er mit einer Teiluntersuchung über diese Telefonsex-Dienste beschäftigt gewesen. Nicht gerade wenige der in jüngster Zeit verurteilten Straftäter, mit denen er es zu tun bekommen hatte, hatten zugegeben, regelmäßige Anrufer bei solchen gebührenpflichtigen Telefondiensten gewesen zu sein, bei denen sie ihre sexuellen Phantasien, wie bizarr, obszön und pervers sie auch waren, verbal an schlechtbezahlte Frauen loswerden konnten, die von ihren Bossen ermutigt wurden, äußerst nachsichtig mit den Anrufern zu verfahren, solange sie nur bereit waren, die Gebühren zu bezahlen. Er hatte selbst bei einigen dieser Dienste angerufen, um herauszufinden, was da angeboten wurde, aber auch um festzustellen – unter Rückgriff auf die Aufzeichnungen der Interviews mit den Straftätern –, wie weit man gehen konnte, ehe der Ekel bei den Frauen stärker wurde als die Profitgier oder die verzweifelte Notwendigkeit, Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen.
    Schließlich hatte er dann Gespräche mit einigen ausgewählten Frauen bei diesen Telefondiensten geführt. Was alle gemeinsam zum Ausdruck brachten, war, daß sie sich verletzt und erniedrigt fühlten, wobei einige von ihnen das hinter der Verachtung, die sie für ihre Kunden empfanden, versteckten. Er war zu einigen Schlußfolgerungen gekommen, aber in den Bericht, den er danach geschrieben hatte, hatte er nicht alle aufgenommen. Einige ließ er aus, weil sie zu weit hergeholt erschienen, andere, weil er fürchtete, sie würden zu viel von seiner eigenen Psyche offenbaren. Dazu gehörte auch seine Überzeugung, daß ein Mann, der vorher schon einmal bei einem der Telefonsex-Dienste angerufen hatte, völlig anders auf den überraschenden obszönen Anruf von einem unbekannten Mitglied des anderen Geschlechts reagierte als auf den einer Frau, die ebenfalls schon Erfahrung in diesen Dingen hatte. Statt den Hörer auf die Gabel zu knallen oder sich bei der Telecom zu beschweren, waren die meisten dieser Männer entweder amüsiert oder erregt. Wie auch immer, sie wollten mehr hören.
    Jetzt mußte er nur noch herausfinden, warum solche Frauen, die von sich aus in dieser Hinsicht tätig wurden, anders als die, die es von Berufs wegen machten, so viel Spaß am Telefonsex mit völlig fremden Männern hatten. Er hatte das Bedürfnis, seine intellektuelle Neugier zu befriedigen, und das war mindestens so stark wie der Drang, den sexuellen Tummelplatz noch intensiver zu erforschen, auf den sie ihn geführt hatte. Vielleicht sollte er einmal ein Treffen vorschlagen. Ehe er diesen Gedanken weiterspinnen konnte, klingelte das Telefon. Tony zuckte zusammen, und seine Hand, die automatisch nach dem Hörer greifen wollte, hielt in der Luft inne. »O mein Gott«, murmelte er verstört und warf den Kopf hin und her wie ein Taucher, der gerade zur Wasseroberfläche aufgetaucht ist. Schließlich nahm er dann doch ab. »Tony Hill«, meldete er sich.
    »Dr.Hill, hier ist Carol Jordan.«
    Tony reagierte zunächst nicht, zutiefst erleichtert, daß seine Gedanken nicht die geheimnisvolle Frau heraufbeschworen hatten.
    »Erinnern Sie sich nicht, Inspector Jordan von der Polizei von

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