Das Lied der Sirenen
ängstlich jeden Blickkontakt zu irgendeinem der Anwesenden. Er stand etwa zehn Minuten in dieser Haltung da, als er merkte, daß der Mann neben ihm keine Anstalten machte, sich ein Getränk zu bestellen. Als Merrick ihm einen scheuen Blick zuwarf, sah er, daß der Mann ihn anstarrte. Er war fast so groß wie er selbst, aber noch breitschultriger und muskulöser, und trug eine enge schwarze Lederhose und ein weißes Unterhemd. Sein blondes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, in der Mitte etwas länger, und seine Haut war tief gebräunt und so glatt wie ein Chippendale-Möbelstück. Der Mann hob eine Augenbraue und sagte: »Hi, ich bin Ian.«
Merrick grinste unsicher. »Don«, stellte er sich mit erhobener Stimme vor, um die Musik zu übertönen.
»Ich habe dich hier noch nie gesehen, Don.« lan rückte näher und drückte seinen nackten Arm gegen das abgetragene Leder von Merricks Jackenärmel.
»Bin zum erstenmal hier«, erwiderte Merrick.
»Also neu in der Stadt, hm? Du klingst nicht nach einem aus der hiesigen Gegend.«
»Ich bin aus dem Nordosten«, antwortete Merrick vorsichtig.
»Das erklärt alles. Ein hübscher Bursche aus Geordieland also«, sagte lan und imitierte dabei nur unzulänglich Merricks nordenglischen Akzent.
Merricks Lächeln wurde verkrampft. »Du bist wohl regelmäßig hier, wie?« fragte er.
»Fast jeden Abend. Das ist die beste Bar in der Stadt für den Typ Mann, den ich mag.« Ian zwinkerte Merrick zu. »Darf ich dich zu ’nem Drink einladen, Don?«
Der Schweiß, der Merricks Rücken runterlief, hatte nichts mit der Wärme im Raum zu tun. »Noch mal so ein Bier«, sagte er.
Ian nickte, drehte sich zum Barkeeper um und drückte sich fest gegen Merrick. Dieser biß die Zähne zusammen und schaute sich hilfesuchend im Raum um. Er sah, daß ein Detective von der Mordkommission ihn beobachtete. Der Kollege machte grinsend ein widerliches Zeichen – er schob den Zeigefinger der einen Hand mehrmals hintereinander in die Öffnung der geballten Faust der anderen Hand. Merrick drehte sich weg und stand direkt vor Ian, dem man inzwischen die Getränke serviert hatte.
»Also dann prost, hübscher Kumpel«, sagte Ian. »Du suchst sicher ein bißchen Spaß heute abend, Geordie?«
»Ich will mich nur mal ein wenig umschauen«, antwortete Merrick.
»Wie sieht’s denn in der Szene in Newcastle aus?« fragte Ian.
»Lebhaft? Wird sicher was für jeden Geschmack geboten, oder?« Merrick zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich bin nicht aus Newcastle. Ich komme aus einem kleinen Dorf oben an der Küste. Das ist kein Ort, wo man sein darf, wie man möchte.«
»Ich versteh’«, sagte Ian und legte eine Hand auf Merricks Arm.
»Nun, Don, hier bist du richtig, wenn du du selbst sein willst. Und du hast auch gleich den richtigen Mann gefunden.«
Merrick hoffte, er würde nicht so entsetzt aussehen, wie er sich fühlte. »Es ist echt was los hier«, versuchte er ein Ablenkungsmanöver.
»Wir könnten wo hingehen, wo es ruhiger ist, wenn du möchtest. Die haben einen anderen Raum da hinten, wo die Musik nicht so laut ist.«
»Nein, ich find’s gut hier«, sagte Merrick schnell. »Mir gefällt die Musik, um ehrlich zu sein.«
Ian drängte sich mit dem Unterkörper noch enger an Merrick.
»Worauf stehst du, Don, oben oder unten?«
Merrick erstickte fast an seinem Schluck Bier. »Wie bitte?«
Ian lachte und fuhr Merrick durchs Haar. Seine hellblauen Augen glänzten teuflisch, Merricks Blick standhaltend. »Du bist wirklich die Unschuld vom Lande, nicht wahr? Ich hab’ wissen wollen, wie du’s am liebsten hast? Willst du’s machen oder gemacht kriegen?« Seine Hand glitt an Merricks Hose hinunter. Als dieser schon dachte, daß er gleich in einer Weise befummelt würde, wie es außer seiner Frau bisher noch niemand getan hatte, glitt Ians Hand zur Seite und krallte sich in Merricks Hintern.
»Das kommt drauf an«, keuchte Merrick.
»Auf was?« fragte Ian zweideutig und drängte sich so eng an Merrick, daß er dessen Erektion an seinem Oberschenkel spürte.
»Darauf, wie weit ich der Person trauen kann, mit der ich zusammen bin«, antwortete Merrick und gab sich Mühe, seinen Ekel weder in seiner Stimme noch in seinem Gesichtsausdruck zu zeigen.
»Oh, ich bin sehr vertrauenswürdig, ganz bestimmt. Und du siehst auch verläßlich aus.«
»Hast du denn keine Angst, dich mit Fremden einzulassen? Immerhin treibt sich ein Serienkiller hier rum.« Merrick nutzte die Gelegenheit,
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