Das Lied der Sirenen
Inspector Jordans neuer Verwendung im Nacken saß, inzwischen war er auch noch der Diener dreier Herren. Man erwartete von ihm, daß er sich um die Ausführung von Inspector Jordans Anordnungen kümmerte, wenn sie nicht da war, er hatte für Kevin Matthews im Damien-Connolly-Fall zu arbeiten, und darüber hinaus hatte er Bob Stansfield über die Ermittlungen im Fall Paul Gibbs, die er und Inspector Jordan bisher durchgeführt hatten, auf dem laufenden zu halten. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, mußte er jetzt auch noch seinen Abend im Höllenloch verbringen.
Nie hatte seiner Meinung nach ein Club seinen Namen mehr verdient. Das Höllenloch machte mit Anzeigen Reklame für sich, die zum Beispiel lauteten: »Der dominierende Club in Bradfield! Ein einziger Besuch wird Sie zum Sklaven machen! Sie werden gefesselt sein und im Höllenloch die schönste Zeit Ihres Lebens haben!« Das alles war eine noch fast milde Art, zum Ausdruck zu bringen, daß das Höllenloch der Ort war, an dem man Partner aufgabeln konnte, wenn Sadomasochismus und sklavische Unterwerfung die Methoden waren, bei denen man den Druck in den Eiern loswerden konnte.
Merrick fühlte sich wie Schneewittchen bei einer Orgie. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Er war nicht einmal sicher, ob er richtig angezogen war. Er hatte sich für alte, verschlissene Levis entschieden, die normalerweise nur das Tageslicht erblickten, wenn er Gelegenheitsarbeiten im und am Haus machte, ein weißes T-Shirt und die abgetragene Lederjacke, die er in den Tagen, ehe die Kinder zur Welt kamen, bei Motorradfahrten zu tragen pflegte. In der hinteren Hosentasche steckten seine dienstlichen Handschellen, in der Hoffnung, sie würden seiner Tarnung ein wenig Wahrheitsgehalt verleihen. Er schaute sich in der nur schwach beleuchteten Bar um und sah so viele quälend eng sitzende Jeans- und Lederhosen, daß er jeden Moment erwartete, über der Tanzfläche SOS -Leuchtraketen aufsteigen zu sehen. Oberflächlich betrachtet, überlegte er, sehe ich eigentlich ja genauso aus. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er einige seiner Kollegen. Die meisten schauten so unangenehm berührt drein wie er selbst.
Als er um kurz nach neun zum erstenmal in den Club gekommen war, war er noch völlig leer. Merrick hatte den Einsatzleiter gebeten, noch mal raus auf die Straße gehen zu dürfen. Er war fast eine Stunde in Temple Fields herumgelaufen und hatte dann in einem Café einen Cappuccino getrunken. Er hatte sich gefragt, warum einige der schwulen Gäste ihm seltsame Blicke zugeworfen hatten, bis er merkte, daß er der einzige war, der Jeans und Lederjacke trug. Ganz offensichtlich hatte er gegen einen ungeschriebenen Kleidungskodex verstoßen. Verschüchtert hatte er den heißen Kaffee hinuntergestürzt und war hinaus auf die Straße geeilt.
Er fühlte sich verwundbar, als er durch die Gassen und Straßen von Temple Fields schlenderte. Die Männer, denen er begegnete, seien es einzelne oder Pärchen oder Gruppen, musterten ihn von oben bis unten, und meistens blieben die Blicke an seiner Genitalgegend hängen. Er wand sich innerlich vor Scham und wünschte, er hätte Jeans angezogen, die nicht so eng saßen. Als zwei schwarze Jugendliche Arm in Arm an ihm vorbeiflanierten, hörte er einen laut zu dem anderen sagen: »Für einen Weißen hat der einen knackigen Arsch, hm?« Merrick spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß, nicht wissend, ob aus Zorn oder Verlegenheit. In einem Moment erschreckender Klarheit erkannte er, was Frauen meinten, wenn sie sich beschwerten, von Männern als reine Lustobjekte betrachtet zu werden.
Er kehrte zum Höllenloch zurück und stellte erleichtert fest, daß es dort inzwischen ziemlich voll war. Laute Diskomusik dröhnte, ein so intensiver Beat, daß er Merrick bis tief in die Brust zu dringen schien. Männer in Leder, geschmückt mit Ketten, vielerlei Reißverschlüssen und Schirmmützen, bewegten sich ekstatisch auf der Tanzfläche, stellten ihre vom Bodybuilding gestärkten Muskeln zur Schau, zeichneten mit zuckenden Unterkörpern bizarre Sex-Parodien in die Luft. Merrick unterdrückte einen Seufzer und drängte sich durch die Menge zur Bar, wo er eine Flasche amerikanisches Bier bestellte, das für einen Gaumen, der die nussige Süße von Newcastle Brown gewohnt war, unglaublich fad schmeckte.
Er drehte sich zur Tanzfläche um, lehnte sich an den Tresen und schaute sich wachsam im Raum um, vermied aber
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