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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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die Ellbogen auf den Knien, die Hände locker ineinander verschränkt. »Okay, Handy Andy«, fuhr er fort, »wir sind ganz unter uns. Wir werden alle Präliminarien weglassen, all das verbale Gerangel, bis du dich endlich entscheidest, mit mir zu reden. Wir gehen geradewegs auf das Ziel los, okay? Als erstes möchte ich dir sagen, wie beeindruckt ich bin. Ich habe noch nie einen sauberer und geschickter ausgeführten Job gesehen. Ich meine damit nicht nur die Leichen, ich meine deine Arbeit insgesamt. Du hast das großartig gemacht. Keine Zeugen. Laß mich das betonen. Es existiert niemand, der dem, was er gesehen oder gehört hat, irgendeine Bedeutung beigemessen hätte, denn es muß Leute gegeben haben, die etwas gehört oder gesehen haben. Doch sie haben das nicht in Beziehung zu deinem Handeln gebracht. Wie hast du es geschafft, so unsichtbar zu bleiben?« Er schaltete den Kassettenrecorder ein, stand auf und setzte sich auf den anderen, auf Handy Andys Stuhl. Er atmete tief ein und entspannte sich ganz gezielt. Dabei wandte er stets eine bestimmte Atemtechnik an, mit der er sich in einen leichten Trancezustand versetzte. Er befahl seinem Bewußtsein, ganz abzuschalten und seinem höheren Selbst direkten Zugang zu allem zu geben, was er über Handy Andy wußte – und dann für ihn zu antworten. Als er sprach, war selbst seine Stimme verändert. Das Timbre war härter, die Töne tiefer. »Ich bin mit ihnen verschmolzen. Ich habe aufgepaßt. Ich habe sie beobachtet und daraus gelernt.«
    Tony wechselte jetzt dauernd die Stühle. »Du hast offensichtlich gute Arbeit geleistet«, sagte er. »Wie hast du dir die Opfer ausgesucht?«
    »Ich mochte sie. Ich wußte, es würde etwas ganz Besonderes mit ihnen sein. Ich wollte so sein wie sie. Sie alle hatten einen schönen Beruf, ein angenehmes Leben. Ich bin gut darin, von anderen zu lernen, ich hätte es lernen können, so zu sein wie sie. Ich hätte in ihre Leben hineingepaßt.«
    »Warum hast du sie dann getötet?«
    »Die Leute sind dumm. Sie verstehen mich nicht. Sie haben immer über mich gelacht, dann haben sie es gelernt, Angst vor mir zu haben. Ich mag es nicht, wenn man über mich lacht, und ich habe es satt, daß die Leute ganz behutsam mit mir umgehen, als wäre ich ein wildes Tier, das sie angreifen könnte. Ich habe ihnen ihre Chancen gegeben, aber sie ließen mir keine Wahl. Ich mußte sie töten.«
    »Und als du es einmal getan hattest, hast du festgestellt, daß es dir großartig gefallen hat, nicht wahr?«
    »Ich habe mich gut gefühlt. Ich hatte alles unter Kontrolle. Ich wußte, was geschehen würde. Ich hatte alles sorgfältig geplant, und es hat funktioniert!« Tony war selbst überrascht, wie enthusiastisch das aus ihm herausbrach. Er wartete, aber da kam nichts mehr aus seinem Inneren.
    »Hat nicht lange angehalten, nicht wahr – das Vergnügen, das Gefühl der Macht über andere?«
    Als er wieder auf Andys Stuhl saß, spürte Tony zum erstenmal eine Blockade. Normalerweise lockerte dieses Rollenspiel seine Gedanken, ließ sie frei fließen. Jetzt aber hinderte sie etwas daran. Dieses Etwas stand sicher im Mittelpunkt der Sache. Tony ging wieder zu seinem eigenen Stuhl und dachte darüber nach. Serienmörder leben in ihren Verbrechen ihre Phantasien aus. Die Ausführung des Verbrechens kommt jedoch nie an die Phantasmagorie heran, hat also im Hinblick auf die Befriedigung nur eine begrenzte Kraft. Die Details des Mordes werden in die Phantasievorstellungen übernommen und dann in einem weiteren, oft stärker ritualisiertem Mord in die Tat umgesetzt. Und so weiter. Aber mit der Zeit haben die Phantasievorstellungen weniger und weniger anhaltende Kraft. Die Morde müssen dichter aufeinander folgen, um die Phantasie weiter anzuheizen. Dann sagte er laut:
    »Aber deine Morde folgen nicht dichter aufeinander, Handy Andy. Warum ist das so?«
    Ohne große Hoffnung auf eine Antwort setzte er sich wieder auf dessen Stuhl. Er schaltete sein Bewußtsein aus, ließ eine große Leere in seinen Geist eintreten und hoffte, daraus würde eine Antwort aufsteigen, die zu seiner Vorstellung von Handy Andy paßte. Nach einigen Augenblicken spürte Tony, daß ihm sein Bewußtsein entglitt, und plötzlich, wie aus großer Ferne, zitterte ein glucksendes Lachen durch seine Kehle. »Es ist meine Sache, das zu wissen, und deine, es herauszufinden«, hörte er seine eigene Stimme spöttisch sagen.
    Tony schüttelte den Kopf wie ein Taucher, der an die Wasseroberfläche

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