Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Familienväter mit angegrauten Schläfen und Jungen wie er, die direkt von der Schulbank verpflichtet wurden. Noch einmal muss das deutsche Volk wie ein Mann zusammenstehen, hieß es in der Zeitung. Noch einmal sei eine Kraftanstrengung für den Sieg vonnöten, und diese letzte, große Sommeroffensive an der Westfront erfordere es, dass nun auch der Jahrgang 1900 zur Waffe greife.
Niemand schläft. Ein kalter Mond schluckt das Licht der Sterne. Im Zugabteil riecht es nach Tabak und Schnaps und Männern. Einer sagt leise die Namen der Ortschaften an, die sie passieren. Die beiden neben ihm diskutieren die Frontlinien. In einem der Nachbarabteile prahlt einer von seinen Abenteuern bei einer Dirne, was seine Zuhörer mit rauem Gejohle quittieren.
Es ist Juli, Hochsommer, doch die Landschaft, durch die sie marschieren müssen, als der Zug seinen Endhaltepunkt erreicht hat, ist ein Brachland, verbrannt und vernarbt, mit kohlschwarzen Säulen, die einst Bäume waren. Reims heißt ihr nächstes Ziel, eine Stadt, die sie nicht sehen und auch nicht erreichen, irgendwo am Horizont, gegenüber den deutschen Stellungen soll sie sich befinden. Die Sonne brennt aus einem Himmel, der seltsamerweise nicht blau ist, sondern weißlich. Insekten surren. Ein Offizier verteilt sie in die Schützengräben, wo bärtige Männer mit leeren Augen ihnen zur Begrüßung auf die Schultern schlagen.
»Grünschnabel«, sagt der, neben den Theodor geschoben wird. »Hast du deine Gasmaske griffbereit? Haben sie dir gezeigt, wie du das Gewehr halten musst?«
Wortlos reißt Theodor sein Maschinengewehr von der Schulter und bringt es in Anschlag auf das verbrannte Feld. Richard soll nicht umsonst gestorben sein. Er wird ihn rächen. Er wird für ihn siegen. Und dann wird er heimkehren, das hat er den Eltern versprochen.
»Erich heiß ich.« Der Ältere grinst. »Und der Rotzlöffel zu meiner Linken hier ist unser frommer Hermann aus Meißen.«
Sie schütteln sich die Hände. Lehnen sich an die mit groben Planken und Ästen notdürftig befestigten Wände des Grabens. Es riecht anders als im Zug. Nach Erde und Schweiß und Pisse. Die meisten Soldaten haben offenbar schon seit geraumer Zeit weder sich selbst noch ihre Uniformen gereinigt, ein paar kratzen sich immer wieder im Haar und im Schritt.
»Läuse«, sagt Erich. »Aber das ist nicht das Schlimmste.«
»Was ist denn das Schlimmste?«
»Krätze zum Beispiel. Ruhr. Diese Scheißwarterei und dann – na, das werdet ihr morgen schon merken.«
Morgen geht es also los. Am 15. Juli. Wir sollen auch unser Leben für die Brüder lassen. Er stellt sich vor, Richard und er würden diese Schlacht gemeinsam gewinnen und heimkehren, sich an die Warnow setzen und angeln. Es geht auch um unseren Glauben in diesem Krieg, hat Richard ihm an ihrem letzten Abend dort erklärt. Der Kaiser und Preußen und wir Protestanten, wir sind untrennbar miteinander verbunden. Und wenn wir verlieren, siegen die Katholen oder die gottlosen Roten, das darf nicht geschehen. Richard, der Ernsthafte. Er war so davon überzeugt gewesen, dass er Pfarrer würde, wie der Vater. Ob er junge Soldaten wohl heute auch Rotzlöffel schimpfen würde, wenn er noch lebte?
Er hat sich den Krieg glorreicher vorgestellt. Aufrechter. Mann gegen Mann. Auge in Auge. Nicht so wie dieses erbärmliche Kauern im Dreck. Hat Richard das vor drei Jahren auch so empfunden? Ging es ihm genauso?
Die Zeit schleppt sich dahin wie ein altersschwacher Gaul. Die Wachen spähen zum Feind rüber. Ab und zu peitscht ein Schuss, weit entfernt, lässt sie trotzdem zucken. Irgendwann verteilt ein hohlwangiger Sergeant Brotkanten und Dauerwurst. Noch später, als sich die Dunkelheit schon auf sie herabsenkt, gibt es endlich Wasser und Schnaps und sie dürfen austreten.
Wieder der kalte Mond über ihnen. Wieder die Zoten der Männer, die ihm die Röte ins Gesicht jagen. Nie dürfte er das, was er hier hört, zu Hause erzählen.
Und dann bricht die Hölle los, im ersten Morgenrot. Das Trommelfeuer der Geschütze. Ein Pfeifen und Krachen und Heulen, eine Urgewalt, die sich von allen Seiten über sie stürzt, so laut, dass etwas tief in den Eingeweiden birst – und dennoch bohrt und hämmert und rast dieser Schmerz immer weiter.
Lärm. Höllenlärm. Ein Donnern, das nicht mehr aufhört. Das Geheul und Geschrei der Männer. Schießen, immer Schießen. Durchladen. Schießen. Der Gestank von Pulver. Befehle. Der Gestank von Pisse. Verbissene Kiefer. Das Rattern der
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