Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Senfgläser mit Rotwein, sein Kumpel Piet, mit dem er sich die Ateliermiete teilte, gesellte sich zu uns, wir stießen an und begannen zu reden, und das war der Auftakt zu unserer ersten gemeinsamen Nacht, denn als besondere Geste für mich hatten Ivo und Piet ein Klavier vom Sperrmüll organisiert. Sie schworen, sie wären kreativer, wenn ich spielte, obwohl es verstimmt und sein zweigestrichenes C überhaupt nicht zum Klingen zu bringen war.
Das Taxi bog von der Schönhauser Allee in meine Wohngegend ein. Eineinhalb Jahre lang war ich nach dieser ersten Ateliernacht damals noch zwischen Köln und Berlin gependelt. Dann hatte ich es geschafft, mir einen der raren Berliner Studienplätze für Solopianisten zu sichern, nicht an der legendären Hanns-Eisler zwar, aber an der Hochschule der Künste im Westen. Aber ich zog trotzdem nach Prenzlauer Berg, in eine WG in der Nähe von Ivos Atelier. Und ich war nicht die einzige Westlerin, die es ins Viertel der Ost-Boheme zog. Ivos Instinkt hatte ihn einmal mehr nicht getrogen: Aussteiger, Kunstschaffende und Träumer jeglicher Couleur siedelten sich im Prenzlberg an. Aufbruchstimmung lag in der Luft, ein stetes Vibrieren. Hausgemeinschaften begannen in Eigeninitiative ihre Häuser zu sanieren. Aus heruntergewirtschafteten DDR-Ladenlokalen wurden über Nacht Cafés oder Kneipen, aus Kellern Jazzklubs, in Hinterhöfen wurden Theater und Werkstätten gegründet, Kitas und Bio-Kollektive. Alles war in Bewegung und bunt, alles schien möglich, die Yuppies und Filmwichtigtuer waren noch fern.
Das Taxi bremste ab, der Fahrer begann an den inzwischen proper herausgeputzten Fassaden nach meiner Hausnummer zu spähen.
»Der unrenovierte Altbau dort links.« Ich registrierte mit Erleichterung, dass die Fassade des Vorderhauses unverändert aussah. Aber lange würde dieser Friede nicht mehr währen, seit dem Herbst hatte die Erbengemeinschaft meiner alten Vermieterin hier das Sagen. Eine grundlegende Sanierung der Wohnsubstanz war uns angekündigt worden, bald schon, spätestens im Sommer, was für mich hieß, dass es dann Zeit zum Weiterziehen wäre.
Zu Hause. Irgendwann nach Ivos Tod hatte ich aufgehört, das zu denken, wenn ich nach Berlin kam. Irgendwann fühlten sich die Schiffe, auf denen ich unterwegs war, weit vertrauter an. Die Schiffe, die Musik, ein bestimmter Flügel, auf dem ich zum wiederholten Mal spielte. Die Kollegen, mit denen ich teils seit Jahren auf Tour war. Und trotzdem war ich nicht weggezogen, sondern blieb in Berlin gemeldet, nahe meiner ersten WG, nur ein paar Straßen entfernt von Ivos und Piets Atelier. Vielleicht trotz meiner Erinnerungen, vielleicht auch gerade deswegen – und obwohl das Flair, das ich an diesem Stadtteil so geliebt hatte, inzwischen mehr Mythos war als Realität.
Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf. Die Luft drinnen war abgestanden und kam mir beinahe so kalt vor wie die draußen. Ich ließ meine Tasche fallen und ging durch den schmalen Flur in die Küche, die mir auch als Wohnzimmer diente. Dahinter lag noch ein schlauchartiger Raum, der exakt genug Platz für eine 1,60 Meter breite Matratze und einen Schrank bot. Als Krönung des Komforts gab es noch eine mit pissgelben DDR-Fliesen gekachelte Miniaturnasszelle. Die Fenster waren einfach verglast und mit Eisblumen übersät, so wie im Haus meiner Großeltern früher. Mein Etagennachbar drehte in meiner Abwesenheit die Heizkörper auf, sobald Frost im Anzug war, aber sie waren altersschwach, wie alles in diesem Haus, und um die Funktionsweise des antik anmutenden Kohleofens in meiner Küche hatte ich mich bislang noch nie gekümmert. Es war nicht nötig gewesen, weil ich im Winter nie hier war.
Ich füllte Wasser in den Elektrokessel und hängte einen Beutel Kamillentee in eine Tasse. Mein Großvater hatte Berlin nicht gemocht, fiel mir ein, während ich darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann. Oder stimmte das gar nicht? Doch, es stimmte. Er hegte eine Abneigung gegen Berlin, aber ich wusste nicht mehr, warum und woher ich das überhaupt wusste. Es war keine Erinnerung damit verbunden, ich hatte nie mit ihm über Berlin gesprochen, es war nur ein Gefühl.
Das Wasser kochte, ich goss den Tee auf, setzte mich an den Küchentisch und legte die Hände um die Tasse. Ich musste mein Handy einschalten und Alex anrufen. Ich musste handeln. Wie spät war es jetzt an der Ostküste Australiens? Früher, viel früher als hier, dort war es wohl noch Nacht. Auf dem Plakat
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