Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
über dem Tisch räkelte sich mein jüngeres, schwarz-weißes Alter Ego im schulterfreien Abendkleid auf einem Steinway-Flügel. DIE BARKÖNIGIN. Rixa Hinrichs. Piano. Zwei Jahre nach Ivos Tod hatte ein Kumpel von Piet mich für dieses Plakat fotografiert und es layoutet. Ich sah jung darauf aus. Unversehrt. Nicht einmal meine Augen verrieten meine Trauer um Ivo oder die geplatzten Träume, nachdem ich im Konzertexamen der Musikhochschule gescheitert war.
    Ich gab den PIN-Code in mein Handy ein, fast sofort meldete sich die Mobilbox. »Frau Hinrichs, sind Sie schon in Deutschland? Bitte melden Sie sich.« Piep. Die Polizei. Piep. »Rixa, Lorenz hier, wir haben geprobt und ich hab die Zeit vergessen, ach verdammt, es tut mir leid, ich hab es gerade erfahren, also das mit deiner Mutter, aber jetzt sitzt du wohl schon im Flieger.« Piep. Ich legte das Handy auf den Tisch, schloss meine Hände wieder um die Tasse. Ich konnte unmöglich hier bleiben, wenn ich nicht heizte, trotzdem blieb ich sitzen, unfähig, mich zu bewegen. Die Zeit vergessen – in den Nächten mit Ivo war mir das oft so gegangen. Manchmal auch allein, und in letzter Zeit ab und zu mit Lorenz, wenn wir mit Klavier und Saxofon improvisierten. Ich gab mir einen Ruck und holte meine Bettdecke aus dem Schlafzimmer, wickelte mich darin ein und setzte mich mit Handy und Tee auf das Sofa unter dem Küchenfenster.
    Der Kamillentee meiner Großmutter war aus den Blüten gewesen, die sie im Garten und an den Feldrändern pflückte und trocknete. Sie hatte auch Marmelade eingekocht und die Gurken und Bohnen und Kirschen aus ihrem Garten eingemacht. Die Karotten und Kartoffeln bettete sie im Keller in mit Sand gefüllte Kisten, um sie zu überwintern. In den Regalen stapelten sich Äpfel und sorgsam gereinigte Aluminiumfolien, Plastiktüten und Margarinedosen. Sie hatte nie still sitzen können und nie etwas weggeworfen. Sie hatte den Pelz einer Toten als Schutzhülle um ihre neugeborene Tochter genäht.
    »Hat die Frau dann nicht gefroren?«
    »Aber sie war doch tot.«
    »Aber es war doch ihr Mantel.«
    »Die Zeiten waren so, Ricki. Und sie hätte ihn uns bestimmt gern gegeben.«
    »Warum?«
    »Weil ihr Fuchs mich schön warm gehalten hat.«
    »Und was ist mit der Frau passiert?«
    »Opa hat sie beerdigt.«
    Ich trank einen Schluck Kamillentee und zog mir die Decke enger um die Schultern, bevor ich Alex’ Nummern wählte. Erst die, von der ich glaubte, dass sie die seiner Wohnung war, dann seine Mobiltelefonnummer, dann die an der James Cook University in Townsland, wo mir eine freundliche Anrufbeantworteransage mitteilte, dass
Professor Hainrigs
bis zum 15. Januar
not available
war.
    Verschwendung
, hatte meine Mutter gesagt, als sie mein Plakat sah und ich ihr daraufhin von meinem ersten ernsthaften Engagement in der Bar eines Nobelhotels erzählte.
Was für ein Jammer.
Ivo hatte sie nie so enttäuscht. Auch Alex nicht. Doch selbst wenn ich mein Examen bestanden und der Klassik treu geblieben wäre, hätte ihr das nicht gefallen. Sie hatte Ivos Bilder geliebt, nicht meine Musik. Und Alex’ Forschungen rangierten für sie ohnehin in einer eigenen Kategorie. Bestaunenswert zwar, doch zu fremd, sich darüber ein Urteil zu erlauben.
    Not available
. Wie ich Alex kannte, hieß das, er war auf Exkursion, irgendwo am Great Barrier Reef, in den Tiefen des Ozeans. Einen Moment lang sah ich ihn beinahe plastisch vor mir: die langen Spinnenarme und Beine weit ausgestreckt, schwerelos im Blau schwebend, umgeben von seinen Fischen. Ich wählte seine Nummern noch einmal, eine nach der anderen. Ich bat ihn auf all seinen Anrufbeantwortern darum, mich zurückzurufen. Augenblicklich, sofort, sobald er dies höre.
    Wie überbringt man die Nachricht eines Todes, wie lauten die richtigen Worte dafür?
Rixa, es ist … Ivo ist … letzte Nacht …
mehr hatte Alex nicht herausgebracht, als er damals vor meiner Tür stand. Mehr war auch nicht nötig gewesen, denn obwohl das, was geschehen war, bis zu diesem Moment weit jenseits des für mich Vorstellbaren lag, verstand ich sofort – ein einziger Blick in Alex’ Gesicht und der Klang seiner Stimme genügten.
    Was war danach passiert, was hatte ich gesagt oder getan, und was er? Meine Erinnerungen daran lagen im Nebel. Irgendwann hatte ich gemerkt, dass ich heiser war und nicht aufhören konnte zu schreien und dass Alex mich festhielt. Aber etwas war zerbrochen in diesen Minuten, in beiden von uns. Wir waren nie so eng verbunden

Weitere Kostenlose Bücher