Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Maschinengewehre. Geschützdonner. Granaten. Explosionen.
Fliehen will man, einfach nur weg, allein schon, damit endlich Ruhe ist. Aber man kann nicht weg und es hört nicht auf, es geht immer weiter, schwillt sogar noch weiter an und treibt sie raus aus den Gräben, vorwärts, aufs Feld, dem Feind entgegen.
Blut. Zerfetzte Soldaten. Heulende. Wahnsinnige. Berserker. Verbrannte. Und er mittendrin. Vorwärts. Auf den Bauch. Wieder hochspringen. Durchladen. Weiter. Weiter.
»Panzer, die kommen mit Panzern!« Wer schreit das, ist er das? Er kann doch in diesem Tohuwabohu gar nichts erkennen.
Erich springt plötzlich neben ihn. Blutig. Brüllend. Die Gasmaske, er soll seine Gasmaske aufziehen. Theodor zerrt sie hoch. Sie ist viel zu eng, hindert ihn am Atmen. Und Erich, was ist denn mit dem? Unscharfe Sicht. Höllenlärm. Ein gewaltiges Zittern. Erde spritzt auf und hebt Erich hoch, lässt ihn gleich wieder fallen – ohne Kopf, ohne Maske und ohne Beine.
Da ist Hermann, er kniet, ohne sich zu bewegen, als würde er beten. Das ist gefährlich. Theodor reißt ihn auf den Boden, in Deckung hinter das, was von Erich noch übrig ist.
»Die Maske, Hermann, die Maske!« Er hört seine Stimme nicht, aber sein Kumpan scheint zu verstehen und erwacht aus seiner Lethargie. Also weiter, weiter. Tiefer in diese Hölle.
Weißer Rauch hüllt ihn ein. Wieso kann denn eine so völlig entleerte Landschaft noch brennen? Um ihn herum sterben Männer, kippen einfach um und bleiben liegen, und auch er kann jetzt nur noch kriechen, und er muss husten, husten, er kann gar nicht mehr atmen.
Stille auf einmal. Köstliche Stille. Nur ganz entfernt noch ein dumpfes Grollen, wie Trommeln. Doch das zerreißt ihn nicht mehr, klingt fast wie Musik. Tschaikowsky, die Fünfte, die Vater so liebt. Vater. Richard. Gott. GOTT! Wenn du es denn so willst, werde ich dir dienen.
3. Rixa
Berlin war ein Schock, eine einzige Reizüberflutung. Wie immer, wenn ich monatelang auf einem Schiff unterwegs gewesen und beim Anlegen allenfalls in idyllischen Inseldörfern an Land gegangen war, kamen mir die Häuserblocks noch höher und all die aufgemöbelten Prachtbauten noch protziger vor als beim letzten Mal, und ich hatte wieder vergessen, wie breit die Berliner Straßen sind: preußisch dimensioniert, zum Marschieren geschaffen. Häuser, Häuser und noch mehr Häuser glitten vorbei. Abgase dampften. An den Straßenrändern türmte sich schmutziger Schnee, und offenbar hatte man es versäumt, die Bürgersteige zu räumen, solange das noch möglich gewesen war. Nun schlitterten die dick vermummten Passanten im Zeitlupentempo über Eiskrusten, was meinen Eindruck, in einer seltsam anachronistischen Parallelwelt gelandet zu sein, noch verstärkte.
Ivos wegen wohnte ich in dieser Stadt. Er war der Erste aus unserer Familie, der von Köln nach Berlin zog. Der Jüngste, der dennoch vorausging, immer schon war das so gewesen. Vielleicht, weil er sich der Liebe unserer Mutter sicherer fühlte als Alex und ich, vielleicht weil die Rolle des Rebellen in unserer Familie noch nicht vergeben war, als er ein Jahr nach mir auf die Welt kam. Jedenfalls zog er gleich nach der Wende von Köln nach Berlin, und zwar nicht nach Kreuzberg, sondern in den Osten, nach Prenzlauer Berg.
Hier ist die Zukunft, Rixa, hier geht es ab!
Ich weiß noch genau, wie er mich an der Hand entlang bröckelnder schwarzer Altbaufassaden und schließlich in einen unglaublich schäbigen Hinterhof geführt hatte, wo zwei bärtige Kerle Trabis und Schwalbe-Motorräder ausweideten. Aber so etwas konnte Ivo nicht schrecken, im Gegenteil, er fand das inspirierend, es beflügelte ihn. Das ist mein Vermieter, hatte er mir erklärt und einem der Blaumannträger herzhaft auf die Schulter geschlagen – eine Zuneigungsbekundung, die dieser mit einem undefinierbaren Grunzton quittierte, ohne auch nur den Blick zu heben. Und schon lotste Ivo mich weiter: in eine Backsteinhalle und dort zwischen weiteren Schrottteilen eine steile Treppe hinauf, an deren Ende er mit großer Geste eine Stahltür aufstieß und sich vor mir verneigte.
Voilà, liebe Rixa, willkommen in unserem Atelier!
Tatsächlich hatte er Räumlichkeiten gefunden, die diesen Namen verdienten. Mit genug Licht und Platz und einem Austritt auf ein mit wildem Wein überwuchertes Flachdach, von dem aus man wahlweise in den Himmel oder auf die Autowerkstatt blickte. Und genau hier auf diesem Dach standen Tisch und Stühle bereit, Ivo füllte drei
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