Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
mich misstrauisch, als hätte mein Vater das Geld für Schule und Unterbringung auf unehrliche Weise verdient. Während die anderen zu gemeinsamen Spaziergängen aufbrachen, zog ich es vor, allein im Park zurückzubleiben, mit einem Buch oder der Hausarbeit des Tages auf den Knien.
An meinen Vater dachte ich in dieser Zeit fast gar nicht. Der Schlag, der mich auf einem Ohr beinahe hatte ertauben lassen, hatte das ohnehin dünne Band zwischen uns endgültig zerrissen. Dafür dachte ich an Peter und erwartete sehnsüchtig seine Briefe. Jede Woche kam einer an, und ich konnte es kaum erwarten, von seinen Erlebnissen und den Ereignissen im Dorf zu hören.
Ich hatte meinerseits zunächst nicht viel zu berichten, denn mein Leben bestand daraus, dem Unterricht zu folgen und ansonsten möglichst wenig Aufsehen bei den anderen zu erregen, die ich wegen ihrer schönen Kleider, der gezierten Manieren und ihrer kunstvoll ondulierten Haare heimlich bewunderte.
Doch das änderte sich eines Tages.
Der Unterricht wurde meist von Frauen geleitet, bis eines Tages ein junger Lehrer eingestellt wurde, wahrscheinlich aus einer Notlage heraus, denn nur einen Monat zuvor hatte eine der Lehrerinnen geheiratet. Karl Zenker war vom ersten Augenblick an der Schwarm sämtlicher Mädchen. Selbst jene, die dem Unterricht nicht viel abgewinnen konnten, weil sie wussten, dass eine gute Partie auf sie wartete, wenn sie alt genug waren, lauschten wie gebannt seiner Rezitation alter Gedichte.
Auch ich war von diesem Mann fasziniert, der mit seinem dunklen Haar und den leuchtend blauen Augen wie ein Franzose aussah. Seine Stimme war sehr angenehm, und wenn er doch mal jemanden zurechtweisen musste, setzte er weniger auf die Lautstärke als auf den Inhalt dessen, was er dem Sünder mit auf den Weg gab.
»Fräulein Blumfeld, was machen Sie denn hier ganz allein?«
Vor Schreck zog ich einen langen Strich über das Briefpapier. Verlegen legte ich die Feder beiseite. Wenn ich den Brief nicht noch einmal schreiben wollte, musste ich Peter erklären, was passiert war.
»Herr Zenker! Ich habe sie nicht kommen gehört.« Das Blut schoss mir in die Wangen, als er mich anlächelte.
»Und ich habe nicht damit gerechnet, Sie in der Laube vorzufinden, wo doch die anderen jungen Damen alle im Park unterwegs sind.« Er hob das Buch hoch, das er mitgebracht hatte. Shakespeares Richard III. Dieses Werk hatten wir bisher noch nicht durchgenommen. So abgegriffen, wie das Büchlein aussah, hatte er es entweder schon sehr oft gelesen, oder es stammte aus unserer Bibliothek.
»Wenn es Sie nicht stört, würde ich Ihnen gern Gesellschaft leisten und ein wenig lesen. Ich verspreche Ihnen, dass ich auch nicht in spontane Begeisterungsrufe ausbrechen werde. Obwohl Shakespeare das durchaus verdient hätte, finden Sie nicht?«
Ich nickte, obwohl ich erst König Lear von ihm gelesen hatte. Wie ich schon mitbekommen hatte, waren die anderen Schülerinnen weitaus belesener als ich.
Zenker setzte sich, wie versprochen, still in eine Ecke und schlug sein Buch auf. Obwohl von ihm kaum mehr zu hören war als sein Atem, überkam mich Unbehagen. Die anderen Mädchen wären vor Neid sicher geplatzt, doch ich konnte nur daran denken, was sie wohl sagen würden, wenn sie mich so sähen. Würden sie mir unterstellen, ihm schöne Augen zu machen?
»Sie schreiben ja gar nicht weiter«, sagte Zenker, ohne von seiner Lektüre aufzusehen. »Keine Sorge, Sie lenken mich mit dem Federkratzen nicht ab, Fräulein Blumfeld. Fahren Sie ruhig fort, sonst komme ich mir noch vor wie in einem Grab!«
Mit zitternden Händen setzte ich die Feder aufs Papier, ohne dass mir eine Erklärung für den Strich eingefallen wäre. Auch sonst schien mein Kopf wie leer gefegt zu sein. Nachdem ich mich vergeblich um ein paar geistvolle Sätze bemüht hatte, fügte ich lediglich ein paar Worte über das Wetter und das heutige Essen hinzu. Dass ich mit Zenker in der Laube saß, wenn auch in aller Unschuld, verschwieg ich ihm mit der inneren Rechtfertigung, dass dies nichts bedeute und dass ich meinen Bruder nicht zu irgendwelchen Schlussfolgerungen verleiten wolle, die nicht zutrafen.
28. Kapitel
»Die Arme ein wenig höher und dann bitte nicht atmen«, befahl die Schneiderin, während sie ihr Maßband um Maries Taille schlang.
Während Marie den Atem anhielt, blickte sie verstohlen zu Rose, die die Prozedur bereits hinter sich hatte und angesichts der vielen verlockenden Stoffmuster ein wenig verstört
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