Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Ball entscheidet, solltest du dir ein neues Kleid nähen lassen.« Mit erhitzt glühenden Wangen nickte Rose, dann betrachtete sie sich so versonnen, als hätte sie eine Märchenprinzessin vor sich.
Nachdem sie den Schneiderladen wieder verlassen hatten, schlenderten sie noch eine Weile die Straße entlang. In einer kleinen Bäckerei erstand Marie für sich und Rose etwas Zuckerzeug, das sie unterwegs verspeisten. Sie fühlten sich fast wie zwei kleine Mädchen, die nach der Schule einen Umweg machten, um ja nicht zu schnell zu ihren häuslichen Pflichten zurückzukehren.
Je länger sie zusammen waren, desto gelöster wurde Rose. Es war, als würde eine Klammer, die sie jahrelang gefangen gehalten hatte, von ihr abfallen. Schließlich lachte sie ganz unbeschwert und wirkte trotz des altbackenen Kleides um einige Jahre jünger.
Doch als Stellas Haus wieder vor ihnen auftauchte, kehrte Roses alte Angst zurück. »Was, wenn Mutter erfährt, dass …«
»Dass wir uns ein kleines Vergnügen gegönnt haben, wie es sich alle jungen Frauen von Zeit zu Zeit gewähren?« Marie hob die Augenbrauen. »Wir haben doch nichts Unmoralisches getan! Wir haben ein Kleid anprobiert, etwas genascht und uns die Schaufenster angesehen. So was tun sogar Kinder! Mal vom Kleideranprobieren abgesehen.«
Marie zwinkerte Rose aufmunternd zu. »Ich glaube, das hat uns gutgetan, oder nicht? Außerdem warst du in Begleitung einer verlobten Frau, und wir hatten keine Herren bei uns. Der Anstand ist also gewahrt worden.«
Ein wenig erleichterter trat Rose durch die Eingangstür.
»Rose! Marie! Wo wart ihr?«, donnerte es von der Treppe über sie hinweg.
Rose zog sofort den Kopf ein, als Stella ihr einen strafenden Blick zuwarf.
»Wir waren nur ein wenig in der Stadt«, erklärte Marie. »Beim Damenschneider um es genau zu sagen.«
»Warum denn das? Rose braucht noch kein neues Kleid. Und du solltest auch nicht so verschwenderisch mit deinem Geld umgehen.«
Marie unterdrückte ein Seufzen. War Stella denn niemals jung gewesen? »Rose teilte mir vorhin mit, dass eine Einladung gekommen sei. Da dachte ich, dass es schön wäre, sich einmal Kleider anzusehen. Wir haben ja nichts gekauft, nur einmal geschaut.«
»Auslagen betrachten weckt nur Begehrlichkeiten, die einen sonst niemals heimgesucht hätten«, mahnte Stella; dann wandte sie sich an ihre Tochter. »Was für eine Einladung? Eine für dich?«
»Für uns«, gestand Rose zitternd, dann reichte sie ihrer Mutter den ungeöffneten Brief, den sie die ganze Zeit über wie einen Schatz bei sich getragen hatte.
»Ein Brief von den Bellamys!« Stella riss entgeistert die Augen auf. »Sollte es möglich sein …«
Marie zwinkerte Rose aufmunternd zu. Am liebsten hätte sie mit ihr darauf gewettet, dass Auntie die Einladung annehmen würde.
Mit nun ebenfalls zitternden Händen riss Stella den Brief auf. Das darin enthaltene Blatt war aus dem gleichen edlen Papier und wies ein Wasserzeichen in Form eines Familienwappens auf. Beeindruckt musste Marie zugeben, dass sie so etwas Edles noch nie gesehen hatte. Nicht einmal Sophia Woodbury verfügte über solches Papier!
Nachdem Stella den Brief wieder und wieder gelesen hatte, blickte sie fassungslos in die Runde. »Wir sind tatsächlich eingeladen – alle vier!«
»Dann weiß Mrs Bellamy also von mir?«, erkundigte sich Marie vorsichtig.
»Natürlich, du bist doch Jeremys Verlobte!«
War es möglich, dass Stella auf einmal viel warmherziger zu ihr war? Oder hatte sie sich die vorherige Kälte nur eingebildet, weil sie die Stimmung im Haus so bedrückend fand?
Jedenfalls wirkte Stella wie verwandelt. »Wenn das so ist, werden wir uns natürlich neue Kleider machen lassen!«, verkündete sie, während sie das Schreiben so vorsichtig in den Umschlag zurückschob, als könnte es unter ihren Händen zerfallen. »Allerdings werden wir keine aus dem Laden nehmen, sondern die Schneiderin kommen lassen. Mrs Nichols hat einen hervorragenden Ruf und soll sehr sparsam mit den Stoffen umgehen.«
Die Zeit im Lyzeum war eine der schönsten, aber zugleich einsamsten für mich, denn an die höhere Töchterschule gingen kaum Mädchen aus niederen Schichten. In meinem Jahrgang war ich die Einzige, die nicht Tochter eines höheren Beamten, eines reichen Kaufmanns oder hochrangigen Armeeangehörigen war. Schon meine Kleidung wies mich als Tochter eines Pastors aus. Die anderen Mädchen, die das Institut teilweise schon ein Jahr länger besuchten, beäugten
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