Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
pflaumenfarbene Kleid im Schaufenster. Nach kurzem Blättern fand sie einen vergleichbaren Stoff und hielt ihn Rose unter die Nase.
»Der hier würde deine Haut ganz zart und weiß wirken lassen und sehr schön zu deinem schwarzen Haar passen. Außerdem würde man ihn im Schein der Kerzen sicher für schwarz halten, wenn du denn Schwarz haben willst.«
»Aber das ist …« Der Name der Farbe fiel ihr nicht ein.
»Wir sagen dazu Pflaumenblau. Blau wie Pflaumen. Ich bin sicher, dass sich viele Männer nach dir umdrehen, wenn du dazu die richtige Frisur trägst.«
Rose blickte sie an, als erwarte sie, dass jeden Moment ein Blitz vom Himmel fuhr und sie beide für ihre Kühnheit erschlug. Doch nichts passierte. Und Mrs Nichols verließ eine Stunde später das Haus mit einer Bestellung über blauen und pflaumenfarbenen Taft sowie schwarzen Taft für Stella selbst.
An diesem Nachmittag fehlte Philipp zur Teestunde. Isbel offenbart ihr, dass er ihn zum Schreiner geschickt hatte, damit er vier neue Schulbänke bestellte.
»Bekommen wir neue Schüler?«, fragte Marie verwundert, während sie sich eines von Allisons stadtbekannten Scones auf den Teller legte. Wenn sie bei den Isbels war, war die Teezeit immer eine Zeit der gelösten Unterhaltung, anders als bei Stella, die trotz aller zurückgewonnenen Freundlichkeit noch immer seltsam steif wirkte.
»Ja, wir haben sechs Neuanmeldungen. Vor Kurzem sind zwei neue Familien hergezogen, mit fünf und acht Kindern, da bekommen wir reichlich zu tun in den nächsten Jahren.«
»Das ist ja wunderbar!« Freudig biss Marie in ihr Scone. Das Butteraroma und die Rosinen ließen sie beinahe dahinschmelzen.
»Und das Gute ist, eine Familie kommt aus Deutschland. Sobald sie sich eingerichtet haben, werde ich den Leuten mitteilen, dass sie eine Landsmännin hier haben. Es wäre schön, wenn Sie ihnen beim Eingewöhnen ein wenig helfen würden.«
»Das mache ich sehr gern!« Dass sie hier Landsleute treffen würde, hätte Marie nicht erwartet, doch ihr Herz pochte freudig angesichts der Möglichkeit, wieder ihre eigene Sprache zu sprechen, in langen Sätzen und nicht in den kurzen Phrasen, die sie während des Unterrichts lehrte.
»Ich habe auch eine gute Neuigkeit!«, begann sie, nachdem sie einen Schluck von dem köstlichen Tee probiert hatte. »Jeremy und ich sind zum Ball der Bellamys eingeladen worden. Auntie und Rose natürlich auch. Ist das nicht wunderbar? Ich war noch nie auf einem Ball.«
Die Isbels wirkten ehrlich erstaunt, was Marie gar nicht so recht verstehen konnte. Insgeheim hatte sie sogar gehofft, das Paar wäre ebenfalls eingeladen worden.
»Kommen Sie etwa nicht?«
Allison schüttelte den Kopf. »Nein, und das gilt wohl für die meisten Bewohner der Stadt. Glauben Sie mir, die Bellamys laden nur Leute ein, die ihnen von Nutzen sind«, erklärte Allison, während sie Marie eine Tasse Tee einschenkte. »Nur selten haben sie gewöhnliche Leute eingeladen, und wenn, dann haben sie sich jedes Mal etwas von ihnen versprochen.«
Die wunderbaren Scones lagen Marie auf einmal wie Steine im Magen. Dass Allison eifersüchtig war, schloss sie aus; auch wenn sie strahlender als manch andere Frau in der Stadt war, versuchte sie nicht, sich mit den einflussreichen Leuten der Stadt abzugeben. Auch James hielt nichts davon.
Da Allison sie auch noch nie angeschwindelt hatte, musste wohl etwas an ihren Worten sein. Doch was wollten die Bellamys von ihnen? Jeremy war zwar der Reverend der Stadt, aber er hatte weder Geld noch etwas anderes zu bieten als seinen geistlichen Beistand.
»Nun verschreck doch Marie nicht!«, mahnte James, der sich ein weiteres Scone nahm. »Es geschieht nicht alle Tage, dass man hier zu einem Ball eingeladen wird. Amüsieren Sie sich, essen Sie gut und berichten Sie uns, welche teuflischen Orgien die Bellamys feiern, dass die Leute so verrückt danach sind.«
Marie lächelte unsicher. »Vielleicht wollen sie mich ja kennenlernen«, sprach sie ihren Gedanken aus. »Immerhin bin ich bald die Ehegattin ihres Reverends. Außerdem unterrichte ich die Kinder der Stadt.«
»Nicht die der Bellamys«, entgegnete James seufzend. »Was die uns an Schulgeld einbringen würden!«
»So darfst du nicht reden«, ermahnte Allison ihn, als sie sich wieder an den Tisch setzte. »Du unterrichtest die Kinder doch nicht des Geldes wegen. Wie vielen Eltern haben wir das Schulgeld schon ermäßigt oder erlassen?«
James nickte zustimmend. »Stimmt, meine Liebe, das
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