Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Maßschneiderarbeiten auch schon fertige Kleider kaufen konnte. Das Schmuckstück der Auslage war ein pflaumenfarbenes Abendkleid, das Rose hervorragend stehen würde, wie Marie fand. Doch weil sie nicht wieder Roses Bedenken wachrufen wollte, versagte sie sich den Hinweis und trat mit Rose unter Glockengebimmel ein.
»Guten Tag, meine Damen, was kann ich für Sie tun?«, rief die Verkäuferin beflissen, während sie hinter einer Figurine auftauchte, auf der ein mit Stecknadeln geheftetes Kleid hing.
»Wir würden uns gern Abendkleider bei Ihnen anschauen, wenn Sie welche dahaben.«
Ein wissendes Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau. »Ah, Sie wurden wohl zum Bellamy-Ball eingeladen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Marie verwundert.
»Weil heute schon etliche Frauen hier vorgesprochen haben. Ich fürchte, die farbenfrohesten Stücke sind bereits reserviert, aber wir schneidern Ihnen natürlich gern etwas Ähnliches, sollten Sie sich für einen Entwurf erwärmen können.«
Marie zwinkerte Rose zu, deren Wangen glühten, als hätte sie zu lange ins Herdfeuer gesehen.
»Dann schauen wir uns doch mal ein wenig um.«
Die Verkäuferin führte sie in den Ausstellungsraum, der wie ein bunter Zauberwald aus angekleideten Schneiderpuppen wirkte. Die unterschiedlichsten Modelle wurden hier ausgestellt, die meisten mit den typischen breiten Röcken, aber es waren auch einige schmalere Kleider dabei. Marie war gerade vor einem rosafarbenen, mit Glasperlen bestickten Kleid stehen geblieben, als Rose plötzlich beinahe beunruhigt rief: »Marie?«
»Was gibt es denn?« Marie kämpfte sich an zwei Figurinen mit ausladenden braunen Roben vorbei. »Alles in Ordnung?«
»Nein … ich meine, doch … sieh doch mal!«
Wie vom Blitz getroffen stand Rose vor einer Figurine, auf der ein dunkles Kleid hing, dessen Stoff leicht rötlich changierte.
»Oh, das ist wunderschön!«, rief Marie aus, und nachdem sie Rose kurz betrachtet hatte, fand sie auch, dass es der Cousine gut stehen würde. »Du solltest es anprobieren.«
»Ich weiß nicht«, genierte sich Rose wie eine Sechsjährige, die zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ein Lied vortragen soll.
»Was sollte denn daran schlimm sein?« Suchend blickte sie sich nach der Verkäuferin um. »Miss, können Sie uns vielleicht helfen?«
Dienstbeflissen eilte die junge Frau zu ihnen, und wenig später verschwand Rose in der Umkleidekabine, von wo aus sie sich melden sollte, falls sie Hilfe benötigte.
Marie schaute sich weiter um. Welches Kleid sollte sie wohl tragen? Während sie noch überlegte, streifte ihr Blick das Schaufenster. Auf einmal erstarrte sie. War das Philipp, der da kurz hereingeschaut hatte? Beinahe hätte sie beim Versuch, ihm nachzuschauen, die Figurine mit dem gesteckten Kleid umgerissen. Die Verkäuferin warf ihr trotz rascher Entschuldigung einen missbilligenden Blick zu, dann musste sie sich aber wieder um Rose kümmern, die sich inzwischen umgezogen hatte und nun Hilfe bei der Schnürung des Kleides brauchte.
Als Marie ans Fenster trat, war Philipp bereits wieder verschwunden. Und sie wunderte sich über sich selbst. Warum wollte ich ihn unbedingt sehen?, fragte sie sich. Und weil sie die Antwort sehr wohl kannte, wurde sie ein klein wenig rot.
Glücklicherweise trat nun Rose in den Verkaufsraum. Das neue Kleid hatte sie vollkommen verwandelt. Schüchtern wirkte sie noch immer, doch ihr Aussehen war das einer jungen Frau, die mehr vom Leben haben wollte als ein trostloses Zimmer und die Gesellschaft ihrer Mutter.
»Es sieht sicher furchtbar aus, nicht wahr?«, fragte sie unsicher, worauf die Verkäuferin ein erschrockenes Gesicht zog.
»Nein, Rose, du siehst wunderschön darin aus.«
»Dieses Modell wäre auch noch zu haben«, flötete die Verkäuferin dazwischen, was Marie aber ignorierte, während sie Rose vor einen der Spiegel schob. »Schau dich doch mal an, wie hübsch du bist! Wenn du die Haare ein wenig anders trägst und ein bisschen Rouge auf deine Wangen zauberst, müssen die Mädchen in der Stadt wirklich Angst haben, dass du ihren Burschen den Kopf verdrehst.«
»Aber ich …«, wandte Rose ein, worauf Marie ihr den Finger auf den Mund legte.
»Ich weiß, dass du so etwas nie tun würdest, doch die Möglichkeit besteht. Ich bin sicher, dass es hier noch viele Junggesellen gibt, deren Herz du bezaubern kannst. Nicht wahr?«
Als sie die Verkäuferin ansah, nickte diese hastig.
»Siehst du? Wenn deine Mutter sich für den
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