Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
nicht vorgestellt.
Am nächsten Morgen erhob sie sich trotz der kurzen Nacht in aller Frühe. Erst als sie nach der morgendlichen Wäsche ihr Kleid anzog, fiel ihr ein, dass heute Sonntag war. Enttäuscht legte sie das Schulkleid wieder ab und schlüpfte in das Kleid, das sie von ihrem ersten Lohn erstanden hatte. Nachdem sie ihre Frisur gerichtet hatte, ging sie hinunter in die Küche. Vielleicht ließ sich Stella durch ein gutes Frühstück ein wenig besänftigen.
Kurz nachdem sie das Wasser aufgesetzt hatte, erschien Stella in der Küche. Erschrocken wirbelte Marie herum, als sie ihr einen guten Morgen wünschte.
»Du bist gestern einfach so verschwunden. Gab es dafür einen Grund?«
»Mir ging es nicht gut.« Marie wandte sich wieder dem Kessel zu. Das Wasser darin kochte leider noch lange nicht.
»Du hättest unseren Wagen nehmen können.«
»Ich wollte euch das Fest nicht verderben.«
»Das hättest du nicht«, gab Stella zurück, dann musterte sie Marie prüfend. »Ist alles in Ordnung zwischen dir und Jeremy?«
Als ob es etwas gäbe, das nicht in Ordnung sein könnte! Marie verbarg ihren Gedanken unter Geschäftigkeit, als sie zum Bord eilte, auf dem das Glas mit dem Porridge-Mehl stand. »Es ist alles bestens«, schwindelte sie. »Er war gestern sehr aufmerksam.«
»Vielleicht solltet ihr mehr Zeit miteinander verbringen«, sagte Stelle nach kurzer Überlegung. »Wie sollt ihr denn ein Paar werden, wenn einer von euch hier ist und der andere da.«
Hätte Stella diese Einsicht vor einigen Wochen gehabt, hätte Marie ihr begeistert zugestimmt. Doch jetzt wusste sie nicht, ob sie noch Lust darauf hatte, Jeremy näher kennenzulernen. Seine zur Schau gestellte Begeisterung für Mr Corrigan hatte Marie schon viel zu viel über ihn erzählt.
»Jeremy wird heute nach dem Gottesdienst zu uns kommen. Vielleicht solltet ihr eine kleine Ausfahrt ins Grüne machen.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Marie stirnrunzelnd, während sie nach einer Ausflucht suchte. Auf keinen Fall wollte sie den Nachmittag allein mit Jeremy verbringen, einem Mann, den sie überhaupt nicht kannte und bei dem sie inzwischen regelrecht fürchtete, ihn kennenzulernen. »Ich fühle mich noch immer nicht wohl und habe Kopfschmerzen. Vielleicht ist es besser, wenn ich mich nach dem Mittagessen hinlege.«
»Du siehst auch noch ziemlich blass um die Nase aus«, meinte Rose, die offenbar eine wunderbare Ballnacht gehabt hatte.
»Ich werde Jeremy fragen, ob er am nächsten Wochenende Lust hat, etwas zu unternehmen.«
Der Gottesdienst und das anschließende Mittagessen wurden zu einer regelrechten Qual. Jeremy behandelte sie kühl wie zuvor, vielleicht sogar noch ein Stück kühler. Offenbar hatte sie ihn mit ihrem Verschwinden vor seinen neuen Freunden bloßgestellt.
Und was, wenn ich in Ohnmacht gefallen wäre?, dachte Marie. Außerdem hatte der Abend doch noch eine schöne Wendung genommen. Das Gespräch mit Philipp war es wert gewesen, dass sie jetzt Jeremys schlechte Laune erduldete.
Da er nicht viel Interesse an einem Gespräch mit ihr an den Tag legte, zog sich Marie, wie sie es Stella angekündigt hatte, nach dem Essen in ihr Zimmer zurück und legte sich aufs Bett. Dabei zog sie die kleine Kladde vor, die mittlerweile fast voll war. Für das, was sie ihr noch anvertrauen musste, würde sie etwas kleiner schreiben müssen.
Bevor sie ans Werk gehen konnte, klopfte es an ihre Tür.
War das Jeremy? Wollte er nach ihr sehen?
Erschrocken ließ sie das Buch wieder unter der Matratze verschwinden und legte sich in Positur, bevor sie den Besucher hereinbat.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich dir ein bisschen Gesellschaft leiste?«
Erwartungsvoll blickte Rose sie an. Sie war die Einzige in diesem Haus, die sich seit dem Ball nicht anders ihr gegenüber verhielt.
»Nein, komm ruhig rein.«
Auf Zehenspitzen betrat Rose das Zimmer und schloss vorsichtig die Tür.
»Setz dich ruhig zu mir.« Marie klopfte auf die Bettkante, als Rose Anstalten machte, sich einen Stuhl zu holen.
Verlegen ließ sich Rose auf dem Plaid nieder und schwieg mit gesenktem Blick.
Hat Stella sie nach oben geschickt, damit sie mich bewacht?, dachte Marie misstrauisch. Oder weil sie sich mit Jeremy ungestört über mich auslassen wollte? Verlegen drängte sie diese Gedanken zurück. Warum war sie nur so misstrauisch gegenüber anderen? Nicht alle hatten schließlich etwas zu verbergen, und nicht alle wollten ihr nur Schlechtes.
»Es tut mir leid, dass der Ball
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