Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
ihrem Bruder immer gesungen hatte. Leise summte sie die Melodie vor sich hin und bog in eine Seitenstraße ein, ohne auf ihre Umgebung zu achten.
»He, Missi!«
Marie hielt inne, blickte sich um. Kaum hatte sie den Mann bemerkt, der offenbar auf sie gewartet hatte, wurde sie auch schon grob gepackt und gegen eine Hauswand gedrückt. Eine riesige Pranke verschloss ihr den Mund und hinderte sie am Schreien. Erschrocken blickte sie in das Gesicht des Mannes: Es war der Kerl, der Carter angegriffen hatte!
»Na, wenn das nicht das Miststück ist, das mir den Spaten übers Kreuz gezogen hat.«
Marie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, dann biss sie ihm in die Handfläche.
»Verdammt!«, schnarrte er, packte sie am Kragen und drückte sie erneut grob gegen die Steine. Den Mund hielt er ihr aber nicht noch einmal zu.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Marie auf und versuchte ihn zu treten. Der Angreifer wich geschickt aus und presste sich dann mit seinem ganzen Gewicht gegen sie.
»An Ihrer Stelle wäre ich leise, Miss Lehrerin!« Der Mann lachte auf, als er den Schrecken in ihrem Blick bemerkte. »Ja, ich weiß, wer Sie sind! Und ich weiß auch, was Sie tun, obwohl Ihnen verboten wurde, das zu tun.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Während ihr vor Angst schwindelig wurde und ihr Magen revoltierte, suchte sie verzweifelt nach einem Rettungsanker. Offenbar hatten die Passanten ihren Schrei nicht gehört. Oder hatten sie ihn nicht hören wollen? Wie sollte sie sich sonst bemerkbar machen oder sich befreien?
»Du weißt genau, wovon ich rede! Oder hat Mr Corrigan dir nicht deutlich genug gesagt, dass du in der Schule nicht mehr über deine Indianerfreunde reden sollst?«
Mrs Blake, schoss es Marie durch den Kopf. Natürlich hat ihr Sohn vom Unterricht erzählt, und sie ist damit gleich zum Bürgermeister gelaufen.
Als eine Klinge vor ihrem Gesicht aufblitzte, glaubte sie, jetzt habe ihr letztes Stündchen geschlagen. »Siehst du das Messer hier? Ich könnte dir damit dein hübsches Gesicht zerschneiden. Dann will dich auch der Reverend nicht mehr.«
Marie wimmerte auf, als sie das Metall an ihrer Haut spürte. In einer Abwehrbewegung griff sie nach oben, worauf sich die scharfe Klinge in ihre Hand bohrte.
»Wirf das Messer weg!«, ertönte neben ihnen eine Stimme.
Der Schläger blickte zur Seite, und auch Marie bekam mit, dass noch jemand aufgetaucht war. So leise, als würde sich ein Cree-Krieger an einen Feind anschleichen.
»Philipp!«, rief sie ungläubig. Wie hatte er sie nur finden können?
Mit entschlossener Miene stand Carter da und richtete einen Revolver auf den Kopf des Angreifers.
»Ich hab gesagt, du sollst das Messer fallen lassen. Oder soll sich Mr Corrigan einen anderen Handlanger suchen?«
Der Schläger schielte zornig zu Carter hinüber, kam seiner Aufforderung dann aber nach. »Das wirst du noch bereuen.«
»Sorg lieber dafür, dass du es nicht bereuen musst. Ich habe als Soldat so viele Menschen getötet, dass es auf einen mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Außerdem bin ich sicher, dass Miss Blumfeld Anzeige gegen dich erstatten wird.«
Diese Drohung entlockte dem Schläger nur ein spöttisches Lachen. »Anzeige? Wo will sie mich anzeigen? Corrigan ist hier das Gesetz! Aber das kannst du nicht wissen, du bist ja nicht von hier.«
»Es gibt immer eine höhere Instanz, auch für deinen Boss. Und jetzt verschwinde. Und wehe, du belästigst die Lady noch einmal. Ich hänge an keinem Ort so sehr, dass ich darin nicht einen Mistkerl wie dich erschießen könnte.«
Der Schläger zog sich zurück. Carter schob ihm mit dem Fuß das Messer zu, hielt die Waffe aber weiter auf ihn gerichtet. Erst als der Kerl außer Sichtweite war, nahm er den Revolver wieder herunter.
»Alles in Ordnung, Miss?«
Marie nickte zitternd, dann blickte sie auf ihre Handfläche. Das Blut begann bereits zu verkrusten, doch da die Anspannung von ihr jetzt abfiel, spürte sie den Schmerz.
»Kommen Sie, verschwinden wir von hier.«
Bevor Carter ihren Arm berühren konnte, fiel ihm Marie um den Hals. Tränen schossen ihr in die Augen, während sie ihre Arme fest um seinen Nacken schlang. »Wie haben Sie mich nur gefunden?«
»Als Sie gegangen sind, habe ich mitbekommen, dass Sie jemand verfolgt. Schon die ganze Zeit über hat er bei der Schule herumgelungert. Leider habe ich erst jetzt gesehen, dass es mein spezieller Freund war, sonst hätte ich ihn mir gleich vorgeknöpft.«
»Ich weiß gar nicht, wie
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