Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
für dich nicht schön war«, begann Rose im Flüsterton. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn für mich war er schön.«
»Dann erzähl doch mal, was nach … Jeremys Ansprache noch passiert ist.«
»Ich glaube, ich habe einen Verehrer!«, platzte Rose heraus. »Einer der Männer hat mich ständig zum Tanzen aufgefordert.«
Marie lächelte bei der Vorstellung, dass sich jemand aus den Kreisen der Bellamys in die Cousine eines Reverends verlieben könnte. Nicht alle Menschen sind schlecht, mahnte sie sich gleich wieder.
Den Hintergedanken schien Rose nicht mitbekommen zu haben. Ihre Augen leuchteten, als hätte Amors Pfeil sie tatsächlich ziemlich schwer getroffen.
»War es dieser Hanson-Junge, der sich für dich interessiert?«
Rose schüttelte vergnügt den Kopf. »Nein, sein Name ist Chester Beauregard; seine Familie ist recht wohlhabend und gerade erst nach Selkirk gezogen.«
»Anscheinend hat er dein Herz wirklich erobert.«
»Ja, das hat er.« Rose drückte mit einer theatralischen Geste die Hände auf die Brust. »Er hat dunkles Haar und braune Augen, ja, er sieht ganz wie die Franzosen aus, die im Osten wohnen. Und er hat tadellose Manieren.«
»Ich freue mich für dich.« Marie griff nach ihrer Hand. »Aber pass bitte gut auf dich auf, Rose, versprichst du mir das?«
»Aber warum?«, fragte Rose verwundert.
»Nicht alle Männer sind ehrenhaft. Manche wollen ein schönes Mädchen nur verführen und machen sich dann aus dem Staub.«
»Aber so ist Chester nicht!«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Bestimmt ist er ein sehr ehrbarer junger Mann, und wenn er irgendwann vorhat, dich zu heiraten, solltest du dich nicht zu lange sträuben.«
»Das werde ich nicht!«, entgegnete Rose, und tatsächlich war das alles, was sie Marie hatte mitteilen wollen. »Versprich mir aber, Mutter nichts zu sagen.«
Marie nickte. »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten.«
»Gut.« Mit einem versonnenen Lächeln erhob sich Rose nun wieder und kehrte in ihr Zimmer zurück, wahrscheinlich, um von ihrem Chester zu träumen.
Marie schloss ihre Augen, doch Jeremy war es nicht, an den sie dachte. Ihre Gedanken wanderten weiter zum Schulhaus, in den kleinen Raum, in dem Philipp sich gerade irgendwie beschäftigte und vielleicht auch einen kleinen Gedanken für sie übrig hatte.
32. Kapitel
Endlich war der ersehnte Montag da. Eigentlich hätte sie nach einem Ballwochenende wie diesem beschwingt sein sollen, doch sie fühlte sich lediglich müde und enttäuscht.
Früher als sonst verließ sie Stellas Haus und eilte durch die noch leeren morgendlichen Straßen. Die Sonne schob sich gerade über den rosafarbenen Horizont, und der Dunst, der die Häuser einhüllte, löste sich allmählich auf.
Vielleicht sind es doch die einfachen Dinge, die unser Herz am tiefsten rühren, dachte Marie, die sich angesichts des Sonnenaufgangs seltsam leicht fühlte, während sie dem Schulhaus entgegenging.
»Guten Morgen, Miss Blumfeld, Sie sind aber früh dran!« Carter lächelte sie breit an, als er ihr die Tür aufhielt.
»Nach diesem Wochenende konnte ich es gar nicht mehr erwarten, endlich wieder herzukommen, das können Sie mir glauben.«
»Gab es denn noch irgendwelche Vorfälle oder gar – Reden?«
Philipps verschmitztes Lächeln erfüllte Marie mit einer Wärme, die sie stets vermisste, wenn sie mit Jeremy zusammen war.
»Nein, aber dennoch herrscht eine seltsame Stimmung im Haus. Man hat mir meine Flucht gründlich übel genommen.«
Carter zuckte mit den Schultern. »Das wird vergehen. Immerhin haben Sie in der Zwischenzeit ja nichts Unmoralisches getan.«
Wirklich nicht?, ging es Marie durch den Kopf. Immerhin habe ich die Nacht sozusagen mit einem fremden Mann verbracht. Nein, nicht mit einem fremden, korrigierte sie sich gleich, denn Philipp war ihr inzwischen wesentlich vertrauter als Jeremy.
»Wenn Sie es sagen …«, entgegnete sie wenig überzeugt.
»Außerdem war der Abend doch eigentlich gar nicht so schlecht«, fuhr Philipp fort. »Sie wissen nun, woran Sie bei Ihrem Verlobten sind, kennen seinen speziellen Freund und – haben auch einige meiner Geheimnisse kennengelernt, was wollen Sie mehr? Wahrheiten sind schmerzhaft, aber sie zu kennen, bringt einem letztlich nur Gewinn ein, oder?«
Über die Weisheit seiner Worte musste Marie lächeln. »Keiner unserer Dichter hätte das besser sagen können.«
»Also, dann an die Arbeit. Ich bringe Ihnen gleich alles, was Sie für heute brauchen.«
Wenig
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