Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
der Armee geflohen bin, habe ich sie allerdings nicht mehr gesehen.«
Marie blickte schweigend auf ihren Verband. Carter war also frei! Das freute sie zum einen, aber zum anderen stimmte es sie traurig. Was sollte nun aus der Verlobung mit Jeremy werden? Es gab kein Zurück daraus, jedenfalls keines, das ihr ermöglichen würde hierzubleiben.
Als Philipp sanft über ihren Arm strich, sah sie ihm direkt in die Augen. Ihre Gesichter waren sich nun so nahe, dass eine winzige Bewegung genügt hätte, um sich zu küssen.
»Sagen Sie mir, empfinden Sie etwas für Ihren Verlobten? Ich weiß, dass sie über ihn ziemlich aufgebracht waren, aber können Sie sich vorstellen, mit diesem Mann Ihr gesamtes Leben zu verbringen?«
Warum musste er ihr nur diese Frage stellen!
»Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als ihn zu heiraten, immerhin hat er die Überfahrt bezahlt.«
»Aber kein Mensch kann von einem anderen gekauft werden. Wissen Sie eigentlich, ob er Sie noch will? Oder hat der Aufschub der Hochzeit vielleicht einen anderen Grund gehabt?«
»Er … ich …« Sie war so verwirrt, dass ihr fast schwindelig wurde. Wenn sie die beiden Männer miteinander verglich, so empfand sie für Philipp wesentlich mehr als für Jeremy. Doch das durfte nicht sein, hämmerte sie sich ein. Es wäre unehrenhaft …
»Marie, sagen Sie mir, empfinden Sie etwas für ihn? Wenn ja, dann werde ich Sie nicht wieder behelligen.«
»Nein«, platzte Marie heraus. »Dankbarkeit vielleicht, ja, aber das sind keine vertrauten Gefühle. Dankbar bin ich auch einigen anderen Menschen.«
»Mir zum Beispiel?«
»Sie …« Auf einmal wurde Maries Mund ganz trocken. Was empfinde ich für Philipp? Dankbarkeit, sicher, aber da waren auch andere Dinge, die dieses Gefühl überlagerten.
»Ich mochte Sie schon vom ersten Augenblick an. Und ich mag es, in Ihrer Nähe zu sein.« Nervös zupfte Marie an den Manschetten ihrer Blusenärmel.
»Dann habe ich Ihrem Verlobten ziemlich viel voraus, finden Sie nicht?«
Sanft zog Philipp Marie in seine Arme, so als fürchte er Widerstand. Doch sie schob alle Bedenken beiseite und schmiegte sich an seine Brust. Als sich ihre Lippen trafen, war es, als würde ein Feuerwerk in ihrem Kopf explodieren. Bereitwillig öffnete sie ihren Mund und empfing seine Zunge, die forschend über ihre eigene glitt. Als sie sich wieder voneinander lösten, kam es Marie vor, als würde etwas von ihr abgerissen werden.
»Du solltest nach Hause gehen«, sagte Philipp rau. Sein Blick verriet, wie sehr er um seine Beherrschung kämpfen musste.
»Philipp, ich …«
»Ich werde morgen auch noch da sein. Jetzt solltest du so schnell wie möglich nach Hause gehen. Ich werde dich ein Stück weit begleiten, um sicherzustellen, dass du nicht wieder diesem Kerl unter die Augen kommst.«
Von nun an mied ich die Laube und suchte mir einen anderen Ort zum Briefeschreiben. Meine Beobachtung erzählte ich niemandem, auch nicht Peter. Von den Blättern der Fliederbüsche neben der Treppe umgeben, gelang es mir, all meine Gedanken an Zenker zu vergessen und mich wieder voll auf das zu konzentrieren, was mir früher einmal wichtig war.
Ich hatte mich beinahe wieder vollkommen im Griff, als eines Tages, während ich wieder unter dem Flieder saß, eine Stimme sagte: »Fräulein Blumfeld, hier sind Sie also.«
Während ich in sein lächelndes Gesicht sah, bekam ich für einen Moment keine Luft mehr; Panik ließ meinen Bauch schmerzen. Ich tastete nach meinem Brief, und erst, als ich das Papier spürte, wurde mir wieder wohler.
»Herr Zenker«, presste ich hervor. Ich musste ziemlich blass geworden sein, denn mein Lehrer verzog verwundert das Gesicht.
»Was ist Ihnen, Fräulein Blumfeld, Sie wirken so blass.«
Ich redete mich damit heraus, dass ich mich nach meiner Erkältung immer noch ein bisschen schwach fühlte. In Wirklichkeit klumpte sich mein Inneres zu einem Stein zusammen. Wieder hatte ich ihn vor Augen, nackt in der Laube.
»Ich habe Sie in der Laube vermisst. Ihre Anwesenheit hat so etwas Beruhigendes.«
»Ich schaffe es derzeit nicht, bis zur Laube zu kommen. Nach dem Unterricht bin ich ziemlich erschöpft.« Zenkers Lächeln vergrößerte meine Panik noch. Was wollte er von mir? Dieselben Dienste wie von Charlotte?
Die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand er vor mir, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er zu ergründen versuchte, was wirklich hinter meiner Stirn vor sich ging.
Glücklicherweise rief die Schulleiterin
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