Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
nach ihm, wodurch er gezwungen war, von mir abzulassen.
»Ich wünsche Ihnen weiterhin eine gute Genesung«, sagte er steif, dann verabschiedete er sich. Ich sank erleichtert gegen die Rückenlehne der Bank. Wie lange sollte ich das, was ich gesehen hatte, für mich behalten? Wäre es nicht besser, irgendwem Bescheid zu geben? Ich verachtete mich für meine Feigheit.
Doch auch ohne mein Zutun wurde das Geheimnis offenbar.
Nachdem sich Charlotte einige Male heftig übergeben hatte, wurde ein Arzt ins Vertrauen gezogen. Ich erinnere mich noch gut an Charlottes heftiges Weinen, das aus ihrem Zimmer drang, als er gegangen war. Beim Abendessen wisperte es der gesamte Speisesaal: Charlotte war schwanger. Schwanger von Zenker, wie ich wusste. Natürlich verschwieg Charlotte den Namen des Vaters, doch Zenker selbst meldete sich aus schlechtem Gewissen bei der Rektorin des Internats, und noch am selben Tag packte Zenker seine Koffer. Auch Charlotte musste das Lyzeum verlassen; ihre Eltern holten sie mit einer Kutsche ab.
Obwohl ich die Laube nun wieder für mich gehabt hätte, betrat ich sie nie wieder, denn ich wollte an keinem Ort sein, der zwei Menschen so furchtbares Unglück gebracht hatte.
33. Kapitel
Benommen taumelte Marie zu Stellas Haus zurück. Das Pochen in ihrer Hand nahm sie nur beiläufig wahr; das Brennen in ihrer Seele war wesentlich stärker. Sie hatte Philipp geküsst! Es war kein rauer, verlangender Kuss gewesen, sondern ein leidenschaftlicher, liebevoller. Einer, den sie sich insgeheim schon ersehnt hatte, als Philipp in Dr. Duvals Praxis vor ihr gelegen hatte.
Eine bekannte Männerstimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Marie erstarrte.
»Unser Teil der Eisenbahnstrecke soll von Selkirk über Brandon nach Saskatoon führen.« Ein Finger strich über das raschelnde Papier einer Karte.
»Das ist allerdings Indianerland«, antwortete der zweite Mann, den Marie als Jeremy erkannte. Was hatten er und Corrigan miteinander zu besprechen?
»Das ist mir bewusst. Und ich weiß auch, dass wir das Problem beseitigen müssen, bevor überhaupt mit dem Bau begonnen werden kann.«
Das Problem beseitigen? Marie schnappte erschrocken nach Luft und schlug sich die Hand vor den Mund.
»In drei Wochen werden Vertreter der Canadian Pacific hier eintreffen, die sich nach den Gegebenheiten erkundigen wollen. Wenn sie ideale Bedingungen vorfinden, werden sie sicher gleich einen Vertrag mit uns schließen. Wenn nicht, wird die Strecke weit an Selkirk vorbeigehen, und das wäre dann das Todesurteil für unsere Gemeinde.«
Jeremy seufzte. Dann verfiel er offenbar in Nachdenklichkeit. »Und wie wollen Sie die Sache mit den Indianern regeln? Glauben Sie nicht, dass es Schwierigkeiten mit der Regierung geben könnte? Immerhin hat sie den Cree das Land zugewiesen.«
»Die Regierung ist weit weg, und dem Gouverneur ist es vollkommen gleichgültig, was wir hier tun. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten, Plummer, und wir können hier Geschichte schreiben!«
»Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie meine Hilfe dabei benötigen.«
»Sie werden die Menschen hier von der Kanzel aus auf den Fortschritt einschwören. Soweit ich weiß, sind die meisten älteren Stadtbewohner auf meiner Seite, doch ich brauche auch die Zustimmung der jungen. Wirken Sie auf sie ein, machen Sie Ihnen deutlich, dass es Gott gefällt, was wir hier tun. Wir brauchen diese Eisenbahnstrecke, sonst wird es den Menschen hier binnen weniger Monate ziemlich schlecht ergehen, und die Arbeit von Jahren ist dann dahin!«
»Also gut, ich werde alles mir Mögliche tun!«
»Bestens!« Corrigan klatschte in die Hände. »Ich wusste, dass man mit Ihnen reden kann. Von Ihrer Verlobten kann ich das leider nicht behaupten. Vielleicht sollten Sie sie doch mal ein bisschen mehr an die Kandare nehmen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Jeremy verwundert.
»Trotz meines wohlmeinenden Ratschlags verbreitet sie immer noch in der Schule, dass Indianer Menschen seien wie Sie und ich. Offenbar haben Sie sich da ein recht starrsinniges Weibsbild angelacht.«
»Aber Sir, sie …«
»Warum lassen Sie überhaupt zu, dass sie arbeiten geht? Sie sind ihr Verlobter und könnten es ihr verbieten!«
»Sie wollte ihre Aussteuer finanzieren.«
»Sie hätten sie auf der Stelle und ohne Aussteuer heiraten sollen, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen.«
»Wie Sie wissen, ist meine Mutter vor Kurzem gestorben. Welches Licht hätte es denn auf mich geworfen, wenn ich
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