Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
dass uns hier kein Bär überrascht?«, fragte Marie, während sie die Augen vor dem Glitzern des Wassers beschirmte und einer Schar Enten nachsah, die friedlich über die Fluten paddelte.
»Sicher kann man sich bei den schwarzen Burschen niemals sein«, gab Philipp zurück, während er aus dem Sattel stieg. »Aber wenn sich tatsächlich ein Bär hier blicken lässt, dann nur wegen der Fische. Uns wird er gar nicht bemerken.«
Daran zweifelte Marie; dennoch fühlte sie keine Angst, was zum einen an Philipps Nähe und zum anderen an der Vorstellung lag, dass die weiße Wölfin doch so etwas wie ein Schutzengel für sie war. Während des Rittes hatte sie beschlossen, daran zu glauben. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Während Philipp Holz und trockenes Schilfrohr aufschichtete, bereitete Marie so gut es ging das Nachtlager vor. Es würde die letzte Nacht hier draußen sein, bevor sie das Lager der Cree erreichten. Fast dachte Marie mit Bedauern daran, denn in Philipps Gegenwart fühlte sie sich so wohl, dass sie sich sogar vorstellen konnte, ganze Monate oder Jahre mit ihm unterwegs zu sein.
Ein wenig bedauerte sie es allerdings, dass er seit dem Kuss im Schulhaus nicht mehr versucht hatte, ihr nahezukommen. Immerhin hatte sie ihm doch klargemacht, dass sie es ihm nicht übel nahm?
Wenig später saßen sie Seite an Seite am Flussufer. Philipps Versuche, mit einer improvisierten Angel aus Stöcken und einem Band Fische zu fangen, wurden schließlich von Erfolg gekrönt. Die beiden mageren Barsche wirkten an ihren Spießen zwar ein wenig traurig, doch der köstliche Geschmack des zarten Fleisches ließ sie darüber hinwegsehen, dass ihre Mägen nicht richtig voll wurden.
Als sie sich schließlich zur Nacht niederlegten, blickte Marie hinauf zu den Sternen, die mit fortschreitender Dunkelheit immer zahlreicher wurden, bis sie wie eine diamantenverzierte Decke über ihnen lagen. Wieder fragte sich Marie, warum Philipp nicht versuchte, sie erneut zu küssen. Hatte er es damals wirklich nur getan, um sie zu trösten? Und was war mit seinem Geständnis?
»Marie!« Philipps Flüstern streifte ihre Wange. Erst jetzt merkte sie, dass er sich zu ihr gedreht hatte. »Was wird aus uns werden, wenn wir wieder zurückkommen?«
»Wie meinst du das?«
»Du willst doch in die Stadt zurück, oder nicht?«
Marie wandte sich ihm zu, den Kopf auf ihren Arm gebettet. »Ich werde zurück müssen. Ein anderes Zuhause als das in Selkirk habe ich nicht.«
»Und was ist mit Jeremy? Löst du die Verlobung mit ihm?«
»Ich bin ihm verpflichtet.«
»Verpflichtet?« Philipp schnaubte entrüstet. »Er meint, dich gekauft zu haben, doch Sklavenhandel ist inzwischen selbst in den Vereinigten Staaten verboten.«
»Philipp, ich …«
Marie biss sich auf die Lippen. Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Was, wenn Jeremy es sich selbst anders überlegte? Und wenn nicht, konnte sie doch immer noch fliehen. Warum hielt ihr Gewissen nur an einem Mann fest, der sie überhaupt nicht liebte und dessen Ansichten ihr von Grund auf fremd waren!
»Wir sollten jetzt schlafen«, bemerkte Philipp, dann drehte er sich um. Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.
Kurz bevor Marie mit Tränen in den Augen einschlief, meinte sie in der Ferne das Heulen eines Wolfes zu hören.
Als das Weihnachtsfest des Jahres 1876 herannahte, kehrten Peter und ich in unseren Heimatort zurück. Peter studierte mittlerweile in Hamburg, denn er hatte den Entschluss gefasst, ebenfalls Lehrer zu werden.
»Gemeinsam können wir dann in der alten Dorfschule unterrichten; wenn ich zuerst gehe, wirst du es leichter haben, eine Anstellung zu finden«, schrieb er in einem seiner Briefe, kurz nachdem er aufgenommen worden war.
Ich befand mich im letzten Jahr am Lyzeum und strebte eine Lehrerinnenausbildung an, was unsere Rektorin befürwortete. Vielleicht sei ich nicht die geselligste Schülerin, meinte sie, aber ich hätte sehr viel Wissen, Fleiß und Talent, Menschen zum Zuhören zu bringen – alles hervorragende Eigenschaften für eine zukünftige Lehrerin.
Da ich aber damit rechnete, dass Vater etwas gegen meine Ausbildung haben würde, war meine Rückkehr kein Grund zur Freude. Ohnehin benahm er sich seltsam, wie Peter berichtete. Manchmal verschwand er tagelang in seinem Arbeitszimmer, wenn er nicht gerade von Leuten aufgesucht wurde oder eine Predigt halten musste.
Eine neue Haushälterin hatte inzwischen das Regiment übernommen, nachdem Marianne geheiratet
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