Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
hatte. Die verschlossene, düstere Frau hatte Peter während eines Wochenendaufenthaltes kennengelernt und beschlossen, ihr aus dem Weg zu gehen, um nicht von ihrer finsteren Aura angesteckt zu werden.
Glücklicherweise war Peter vor mir angekommen, sodass ich Vater nicht allein gegenübertreten musste.
»Marie, lass dich ansehen!«, rief er freudig, nachdem ich meine Tasche im Flur abgestellt hatte. Er fasste mich bei den Schultern, drehte mich zu allen Seiten und schob bewundernd die Unterlippe vor.
»Sieh mal an, unsere Kleine! Bist ja schon fast eine richtige Frau!«
»Und du bist immer noch derselbe!«
Wir fielen uns in die Arme und herzten uns minutenlang, bis die Haushälterin erschien. »Sie sind die Tochter, nicht wahr?«
Sie war tatsächlich ziemlich finster, eine Witwe, die keine andere Möglichkeit hatte, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
»Ja, die bin ich«, entgegnete ich dennoch lächelnd und reichte ihr die Hand. »Und Sie müssen die neue Haushälterin sein.«
»Ihr Zimmer ist bereit, und Ihr Vater erwartet Sie«, entgegnete sie, anstatt sich vorzustellen, dann kehrte sie in die Küche zurück.
»Ja, sie ist ein richtiger Sonnenschein«, spottete Peter im Flüsterton, dann zog er mich mit sich zu Vaters Arbeitszimmer. Dort schien alles wie immer zu sein, im Laufe der Jahre hatte er nicht einmal ein Möbelstück verrückt. Ich, die die hellen Räume des Lyzeums gewohnt war, fühlte mich in diesem Raum, als hätte man mich in ein Grab gesperrt.
»Guten Tag, Vater«, sagte ich versöhnlich zu dem Mann, der über den Schreibtisch gebeugt da saß und wieder irgendein Dokument verfasste.
»Guten Tag, Marie«, antwortete er, ohne aufzusehen. »Du bist also wieder da.«
Das war alles, was ich von ihm bekam. Als uns das Schweigen nach einer Weile zu viel wurde, verließen wir das Zimmer, ohne dass er mich auch nur ein einziges Mal angesehen hätte. Peter knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts dazu. Stattdessen begleitete er mich auf mein Zimmer, wo wir uns Neuigkeiten aus unseren jeweiligen Schulen erzählten.
Als ich Vater beim Weihnachtsessen von meinen Plänen erzählte, Lehrerin werden zu wollen, schlug mir das Herz bis zum Hals. Sicher würde er gleich loswettern, dass eine solche Arbeit nicht die Bestimmung einer Frau sei. Doch wiederum erntete ich nur Gleichgültigkeit. »Tu, was du willst«, sagte er schließlich und zog sich mit einem Glas Punsch in seine Schlafstube zurück.
»Ich nehme mal an, das solltest du dann auch«, bemerkte Peter, als Vater die Tür hinter sich zugezogen hatte. Da ich spürte, wie der Zorn im Innern meines Bruders brodelte, fasste ich ihn bei der Hand, und gemeinsam gingen wir nach draußen, um uns den sternklaren Himmel anzusehen, der über Weihnachten besonders prächtig funkelte.
»Vater könnte so stolz auf dich sein, Marie«, sagte er bitter, während er den Orion mit seinen drei Gürtelsternen betrachtete. »Du bist die Beste deines Jahrgangs, deine Rektorin schlägt dich für die Lehrerinnenschule vor. Und alles, was er dazu meint ist: ›Tu, was du willst.‹«
»Du weißt doch, dass er mich wegen des Vorfalls damals nicht mehr leiden kann.«
»Wegen des Vorfalls? Weil er gegen die Gebote verstoßen hat? Er, Marie, nicht du! Was damals passiert ist, ist nicht deine Schuld! Und er kann dir auch keine Schuld geben.«
»Darum geht es nicht«, entgegnete ich. »All die Jahre im Lyzeum hatte ich genug Zeit, darüber nachzudenken. Es geht nicht darum, wer Schuld hat. Ich habe ihn bei einer Schwäche ertappt. Ich weiß, dass er schwach ist wie viele andere Männer auch. Auch wenn er ein Diener Gottes ist, ist er schwach. Das ist es, was er nicht ertragen kann.«
»Das gibt ihm nicht das Recht, dich so zu behandeln. Ich sage dir, nimm das Angebot deiner Rektorin an. Werde Lehrerin, wie du es dir vorgenommen hast. Und dann übernehmen wir beide die Schule hier, wohnen am anderen Ende des Dorfes und sind glücklich. Ohne Vater.«
Ich schloss die Augen. Wie schön wäre es, frei zu sein, ein Leben ohne die bedrückenden Schatten der Vergangenheit führen zu können! Sehnsuchtsvoll seufzend zog ich meinen Mantel enger um meine Schultern. »Du weißt genau, dass das nicht möglich ist. Er wird immer ein Teil von uns sein, schließlich ist er unser Vater.«
»Aber das heißt noch lange nicht, dass wir ihn in unser Leben einbeziehen müssen. Eines Tages werden wir beide heiraten und unsere eigenen Familien haben. Wir werden unseren Kindern nicht das
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