Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
beunruhigen. Hätte uns nicht der Tümpel den Weg versperrt, wären wir gar nicht an sie geraten.«
»Dann ist es Schicksal.« Marthe bekreuzigte sich heftig und räumte dann ihr Strickzeug weg. »Vielleicht sollten wir beten.«
Kaum hatte sie die Hände gefaltet, krachten mehrere Schüsse hintereinander. Rasches Hufgetrappel mischte sich unter das Rasseln der Wagenräder.
Als Marie vorsichtig über die Ladekante des Wagens spähte, stürmten sieben maskierte Männer aus dem Wald. Einige von ihnen feuerten, während andere versuchten, näher an die Wagen heranzukommen. Als die ersten Kugeln Löcher in die Plane rissen, schrie Klara auf. Marthe vertiefte sich in ihr Gebet, und Ella gab es nun auf, Marie zurückholen zu wollen und presste sich fest auf den Wagenbogen.
Marie jedoch beobachtete die Männer weiterhin wie gebannt. Die heranstürmenden Kerle hatten mit den Räubern ihrer Kindergeschichten nichts gemeinsam. Es war eine bunt zusammengewürfelte Truppe, von denen einige Jacken trugen, die an Uniformen erinnerten. Einige von ihnen hatten bunte Tücher vor ihre Gesichter gebunden.
»Bist du verrückt, Mädchen?«, fragte der Wagenlenker, nachdem er einen kurzen Blick über die Schulter geworfen hatte. Im selben Augenblick schnellte sein Nebenmann in die Höhe und feuerte.
Ella presste die Hände auf die Ohren, Klara fiel in Ohnmacht. Während Marthe weiterhin an ihren Gebeten festhielt, rief Marie: »Haben Sie eine Waffe für mich?«
»Eine Waffe?«, fragte der Wagenlenker, während er die Pferde weiter antrieb. »Was willst du mit einer Waffe, Mädchen?«
»Ich kann damit umgehen, mein Bruder hat es mir gezeigt.« Im nächsten Augenblick erschrak Marie über ihre eigene Unverfrorenheit. Würde sie einen Mann töten können? Schreckliche Bilder traten ihr vor Augen, doch sie verdrängte sie. In diesem Augenblick waren die Toten egal, allein die Lebenden zählten. Vielleicht konnte sie mithelfen, die anderen Frauen vor den Banditen zu bewahren.
»Hier, Mädchen.« Marie zuckte zusammen, als zwei Gegenstände neben ihr auf den Wagenboden fielen. »Ich hoffe, du kannst nicht nur schießen, sondern auch laden, denn das kann dir keiner …«
Das letzte Wort wurde von erneuten Schüssen übertönt.
Vorsichtig tastete Marie nach dem Revolver. Das Gewicht überraschte sie nicht, denn von ihrem Bruder wusste sie, dass Waffen ziemlich schwer sein konnten. Da die Patronenkammern geladen waren, brauchte sie sich noch nicht mit der Munition auseinanderzusetzen, also stützte sie den Lauf des Revolvers auf die Ladekante, zog den Hahn mit beiden Händen zurück und drückte ab. Der Knall ließ ihre Ohren klingeln. Ein schmerzhaftes Summen zog durch ihren Arm, während sie der Rückstoß ein Stück nach hinten warf. Als sie sich umsah, blickte sie in das entsetzte Gesicht von Ella.
Ebenso wie Klara und Marthe sagte sie kein Wort, obwohl hinter ihrer Stirn wohl einige Fragen wüteten.
Da die Banditen weiter feuerten, brachte sie den Revolver wieder in Position. Ihre Hand schmerzte noch immer vom Rückstoß, doch irgendwie gelang es ihr, den Hahn erneut zu spannen und den Abzug durchzuziehen.
In diesem Augenblick warf ein harter Ruck den Wagen zur Seite. Marie schrie auf und prallte gegen die Ladeklappe. Diese löste sich und klappte auf. Aufschreiend rutschte sie ein Stück vor, die Waffe entglitt ihrer Hand und verschwand im Grün hinter dem Wagen. Bevor sie Halt finden konnte, fuhr der Wagen über eine weitere Bodenwelle. Als Marie aus dem Wagen geschleudert wurde, hörte sie hinter sich Ella aufschreien. Dann schlug sie hart auf dem Boden auf und verlor das Bewusstsein.
8. Kapitel
Das Dunkel ihrer Bewusstlosigkeit lichtete sich nur sehr langsam. Zunächst war die Welt in dicken grauen Nebel gehüllt, der nur ab und zu einen Moment Klarheit zuließ. Zwischendurch meinte Marie, fremde Worte zu vernehmen und eine Schüssel an ihren Lippen zu spüren, die eine bittere Flüssigkeit in ihren Mund spülte. Dann wechselten sich Dunkelheit und Licht ab; Geräuschen, die sie nicht identifizieren konnte, folgte tiefe Stille. Dazwischen hatte Marie das Gefühl innerlich zu verbrennen, dann fühlte sie wieder gar nichts mehr und wurde von seltsamen Fieberträumen heimgesucht. In diesen sah sie ihren Bruder, der nie Soldat gewesen war, im Garten ihres Hauses stehen, mit staubiger Uniform und schief sitzender Mütze. Voller Freude, dass er heimgekehrt war, wollte sie auf ihn zulaufen, doch plötzlich wurde seine Gestalt in
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