Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
dichten Nebel gehüllt, bis er ganz verschwand.
Als sich die verwirrenden Träume zurückzogen und sie die Augen öffnete, war alles rings um sie herum in rosafarbenes Licht getaucht. Ist das das Paradies?, fragte sich Marie, doch dann strich warme Luft über ihre Haut, und der Geruch nach Gras, Erde und etwas Süßem strömte in ihre Nase.
Ich lebe. Ich lebe tatsächlich noch. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. Wie lange mochte der Überfall zurückliegen? Und was war aus den anderen geworden?
Marie versuchte sich aufzurichten, doch auf einmal erfasste sie ein Schwindel, der sie zurück auf ihr Lager zwang.
Wo bin ich hier?
Die Stoffbahnen, die sie über sich erblickte, gehörten nicht zu den Planwagen, so viel stand fest. Sie waren zu hell und zu luftig, untauglich für die Reise bei wechselhaftem Wetter. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie, dass sie von dem beigefarbenen Stoff vollkommen umgeben war. Und dass es dazwischen ein Loch gab, durch das das Morgenrot hindurchschien.
Ein Zelt. Ich befinde mich in einem Zelt. Haben die Männer vom Treck ein provisorisches Lazarett errichtet?
Während sie erneut versuchte, sich aufzusetzen, näherten sich Schritte. Marie rechnete damit, dass es Johnston war, der nach ihr sehen wollte. Ein menschlicher Umriss strich an der Zeltwand vorbei, wenig später tauchte jemand vor dem Zelteingang auf.
Die Gestalt war nicht groß genug für einen Mann und schien auch keiner der anderen Frauen zu gehören.
Maries Herz begann zu rasen, als sie den glänzenden schwarzblauen Haarschopf erspähte, der zu zwei schweren Zöpfen gebunden war. Das Gesicht dazwischen war sonnengebräunt, die dunklen Augen wirkten wie schwarze Perlen.
Was die Frau zu ihr sagte, verstand Marie nicht, doch offenbar hatte sie bemerkt, dass sie erwacht war.
»Wer bist du?«, fragte sie auf Englisch, als sich die Fremde neben sie hockte.
Auf dem Gesicht der Frau erschien ein gütiges Lächeln, als sie Marie das Haar aus der Stirn strich. »Onawah mein Name.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust, die mit einem Collier aus Holzperlen und Federn geschmückt war. »Ich Medizinfrau unseres Stammes.«
Obwohl ihren Worten ein unverkennbarer Akzent anhing, konnte Marie sie deutlich verstehen.
»Marie Blumfeld.« Diese beiden schlichten Worte fühlten sich in ihrer Kehle wie Rasiermesser an.
»Ich dich nennen Mari, gut?« Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete Onawah auf Maries Einverständnis.
»Ja, nenn mich ruhig so«, flüsterte Marie, denn die lauten Worte wurden ihr schon zu viel. Das schien auch Onawah zu merken.
»Du ausruhen. Ich mache Medizin, dass du kannst reden besser.«
Damit zog sich die Frau wieder zurück.
Wo bin ich hier nur hingekommen?, fragte sich Marie mit pochendem Herzen. Den Gedanken an eine christliche Mission verwarf sie rasch wieder.
Was hatte Onawah gesagt? Sie war die Medizinfrau ihres Stammes. War sie etwa …
Alle Kraft aufbietend, die sie hatte, stützte sich Marie auf die Ellbogen und erhob sich ein wenig. Dabei schmerzten ihre Muskeln furchtbar, Schweiß floss an ihren Schläfen hinab.
Doch ihre Mühe wurde belohnt. Von den Zeltbahnen hingen Felle herunter, das eines Wolfs und das eines Bären. Über ihrem Kopf baumelte ein seltsamer, mit Leder umwickelter Ring, in dessen Mitte Lederbänder ein sternförmiges Muster bildeten. Am unteren Ende des Rings baumelten Federn an perlengeschmückten Schnüren.
Als Maries Blick weiterschweifte, entdeckte sie eine Feuerstelle, in der ein paar schwache Flammen loderten. Auf dem Gestell darüber stand ein kleines Gefäß, das einem Kessel ähnelte. Dahinter lag auf dem Boden ein großer Schädel, der wohl von einem Bison stammte. Hier und da war etwas von den Knochen abgerieben worden.
Seufzend ließ sich Marie wieder auf ihr Lager sinken. Wo bin ich? Und wie bin ich hierhergekommen?
Als Onawah mit einer Teeschale in der Hand erschien, fühlte sich Marie immer noch schwach, aber ein bisschen wacher. Neugier rang in ihrem Inneren mit der Furcht. Was würde mit ihr geschehen, wenn sie wieder gesund wurde? Würde sie bei diesem Stamm bleiben müssen? Sie erinnerte sich an Geschichten von Frauen, die freiwillig bei den Indianern geblieben und dort geheiratet hatten.
»Wie geht es dir?«, fragte Onawah, während sie sich neben Marie kniete. Der bittere Kräuterduft aus der Tonschale mischte sich mit dem Geruch nach Fell, Boden und verbranntem Holz.
»Besser«, krächzte Marie.
»Trink das.« Die Heilerin hielt ihr eine
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