Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
besaß. Bevor sie ging, beugte sie sich noch einmal zu mir und strich mir übers Haar. »Lass es dir gut ergehen, kleiner Engel. Eines Tages wird aus dir sicher eine klügere Frau, als ich es bin. Vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder.«
Damit erhob sie sich und warf noch einmal einen Blick zum Pfarrhaus, hinter dessen Fenster mein Vater stand und ihr nachsah.
»Was meinst du, wird jetzt aus ihr?«, fragte ich Peter, als wir wenig später unter dem Fliederbusch zusammensaßen.
»Entweder nehmen ihre Eltern sie wieder auf, oder sie landet im Armenhaus.« Der Groll in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Und warum hat Vater sie nicht hiergelassen? Sie hätte doch hier ihr Kind bekommen können!«
Peter presste die Lippen aufeinander. Eine Antwort bekam ich nicht. »Lass uns wieder reingehen«, sagte er nur und nahm mich bei der Hand.
Mein Vater veränderte sich in der nachfolgenden Zeit immer mehr. War er wegen des Zustandes unserer Mutter früher nur niedergeschlagen gewesen, wurde er ihr gegenüber jetzt manchmal regelrecht ungehalten.
Unsere Mutter litt ziemlich darunter; manchmal hörte ich sie in der Nacht weinen. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends, sodass der Herr Doktor ständiger Gast in unserem Hause wurde. Eines Tages hörte ich ihn sagen, dass meine Mutter an einer Verdunkelung ihrer Seele litt und dass ihr nicht mehr viel Lebenszeit bleiben würde, wenn nichts dagegen getan wurde.
Doch was sollten wir tun? Trotz der guten Ratschläge, die der Arzt ihm gab, verkroch sich Vater weiterhin und tat nichts, um das Gemüt unserer Mutter aufzuhellen. Immerhin stellte er recht schnell eine neue Haushälterin ein. Marianne Herder war weder so jung noch so schön wie Luise, doch sie hatte ein sehr freundliches Wesen, das uns sofort für sie einnahm. Sie kümmerte sich rührend um Mutter, versuchte geduldig, ihr Speisen einzuflößen, und sorgte dafür, dass sie ordentlich aussah, obwohl niemand von uns wusste, ob sie das überhaupt noch mitbekam.
Dann, eines Nachmittags, kam Peter mit einer Zeitung von der Schule nach Hause, die er wohl einem der Lehrer abgeschwatzt hatte. Das machte er manchmal, um seine Lesekünste zu verbessern. Obwohl es in vielen Häusern bereits Zeitungen gab, weigerte sich unser Vater, eine zu abonnieren, denn er war der Meinung, er würde von seiner Gemeinde und aus der Post genug vom Weltgeschehen erfahren. So besorgte sich Peter auf seine Weise Wissen von der Welt.
Die jetzige Ausgabe schien ihn allerdings mächtig zu bestürzen. »Was ist los?«, fragte ich, von meiner Schiefertafel aufsehend, während er mit zitternden Fingern die Zeitung auf dem Küchentisch ausbreitete. Da ich noch nicht groß genug war, um sitzend das gesamte Blatt zu überblicken, kletterte ich auf die Sitzbank.
Peter antwortete mir nicht, zeigte aber, als er die betreffende Seite gefunden hatte, auf eine Anzeige.
Da sie über Kopf lag, konnte ich sie nicht gleich lesen, doch als ich hinter ihn trat, sah ich es deutlich.«Das ist Luises Name!«
Peter nickte ernst. »Sie ist gestorben. Vor zwei Tagen.«
Ich machte große Augen. »Aber wie kann das sein? Sie war doch noch jung! Jünger als Mama und die lebt doch auch noch.«
»Es ist sicher wegen des Kindes.«
Ohne dass wir es merkten, tauchte Marianne hinter uns auf. Einen langen Hals machend blickte sie auf das Blatt und entdeckte natürlich ebenfalls die Anzeige, denn Peters Finger lag noch immer darauf.
»Wird wohl ins Wasser gegangen sein, das arme Ding«, brummte sie. Dann wandte sie sich um. »Sie war doch meine Vorgängerin, stimmt’s? Ich hab gehört, dass sie unehelich in andere Umstände gekommen sein soll und dass euer Vater sie deshalb weggeschickt hat. Was bleibt einem Mädchen wie ihr denn schon übrig, wenn es nicht in der Gosse landen will.«
Ich blickte zu Peter. Ins Wasser gegangen bedeutete, dass sie sich ertränkt hatte, so viel wusste ich immerhin. Doch warum sollte ein Mensch das tun? Wie groß musste seine Verzweiflung und sein Schmerz sein?
Später, als Peter die Zeitung zusammenknüllte und im Garten verbrannte, gab er mir die Erklärung. Eine Erklärung, die mich erschütterte.
»Luise hat bestimmt geglaubt, dass sie unsere neue Mutter wird. Irgendwann, wenn Mutter im Himmel ist. Doch Vater wollte sie nicht, und das hat ihr das Herz gebrochen. Ich glaube, daran ist sie gestorben und nicht am Wasser.«
12. Kapitel
Das Fest dauerte so lange, bis das gesamte Fleisch des Büffels verzehrt war.
Weitere Kostenlose Bücher