Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
in die Sonntagsschule, und auch in unserer Dorfschule wurde Religion gelehrt.
»Er hat einen seltsamen Ausdruck in den Augen«, berichtete Peter, als er eines Nachmittags aus dem Arbeitszimmer unseres Vaters kam.
»Was für einen Ausdruck?«, fragte ich, denn zu diesem Zeitpunkt war das Bild meines Vaters ziemlich verwaschen, weil ich ihn nur sehr selten zu Gesicht bekam.
»Er wirkt fanatisch, ja beinahe … wahnsinnig. Er macht mir Angst.«
Wenn ich ehrlich war, ging es mir genauso, auch wenn ich nicht zwei Stunden täglich mit ihm verbringen musste.
»Kannst du ihm denn nicht einfach sagen, dass du etwas für die Schule machen musst?«
Peter schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Nein, er meint, er müsse mich vorbereiten, damit ich sein Nachfolger werde. Aber ich will gar nicht Pastor werden.«
Beinahe hätte ich gesagt, dass er ihm das sagen sollte, doch auch wenn mein Vater mich links liegen ließ, kannte ich ihn – er duldete keine Widerworte. Nach einem halben Jahr wurden die Stunden sogar noch ausgedehnt.
Während ich mich in der Küche langweilte, argwöhnte ich, dass mein Vater Peter von mir trennen, ja, vielleicht sogar mich bestrafen wollte für das, was ich gesehen hatte. Lustlos half ich Marianne in der Küche, und erst, wenn Peter aus Vaters Arbeitszimmer wieder entlassen wurde, lebte ich auf.
Die verlorene Zeit machte Peter damit wett, dass er mir von seinem Unterricht erzählte. Nicht von den Dingen, die ihm Angst machten, sondern Geschichten aus der Bibel, die ich bisher noch nicht kannte. Er schaffte es, sie so auszuschmücken, dass ich darin nicht die trockenen Texte sah, die mich in der Sonntagsschule erwarteten, sondern spannende Abenteuergeschichten, die uns ins ferne Palästina und bis nach Ägypten führten.
Wenn der Zufall es wollte, dass ihm ein passender Zeitungsartikel oder ein Buch in die Hände fiel, zeigte er mir Zeichnungen von den heiligen Orten, wie sie jetzt waren.
»Sollte es Vater einfallen, diese Stunden auch mit dir zu beginnen, weißt du das meiste schon und kommst vielleicht schneller durch den Unterricht«, meinte er dann immer augenzwinkernd zu mir.
Doch ich wusste genau, dass mir dieser Unterricht erspart bleiben würde; nie und nimmer würde sich mein Vater so viel mit mir abgeben.
Drei Tage dauerte es, bis die Frauen einen Entschluss gefasst hatten. Als Onawah ihr mitteilte, dass sie damit einverstanden waren, den Kindern Englisch beizubringen, fiel Marie ihr freudig um den Hals. »Ich danke dir, dass du ein gutes Wort für mich eingelegt hast.«
»Es ist besser, wenn unsere Kinder die Weißen gut verstehen. Dann machen sie bessere Geschäfte und leben besser.«
»Ich werde mein Augenmerk darauf legen, dass sie genau diese Worte beherrschen.« In ihrer Freude fiel Marie allerdings etwas ein, das sie zuvor nicht bedacht hatte.
»Eure Sprache!« Ärgerlich schlug sie sich vor die Stirn. »Oh, das hätte ich bedenken müssen! Ich brauche eine Übersetzerin.«
Onawah lächelte hintergründig. »Ich weiß. Ich habe deshalb Tahawah gefragt, ob sie übersetzt.«
Nach einem kurzen Moment der Verwunderung fiel Marie ein, dass dies die Frau sein musste, die mit ihr am Lagerfeuer gesprochen hatte. Eine bessere Übersetzerin konnte sie sich nicht wünschen.
»Vielen Dank, Onawah, du bist wie immer sehr weise.«
»Ich bin nur eine alte Frau, die gelernt hat, an alles zu denken.« Gütig lächelnd bedeutete die Heilerin Marie, mitzukommen.
Tahawah zeigte sich überglücklich, mit Marie zusammenarbeiten zu dürfen. »Ich gelernt Sprache in Christenmission, bevor ich kommen her. Während Krieg ich bei den Weißen war, später aber wieder zu meinem Volk zurückgekehrt.«
So strahlend, wie die junge Frau dreinschaute, schien an ihr eine echte Lehrerin verloren gegangen zu sein. Marie erinnerte sich, dass Augen wie diese sie an ihrem ersten Tag als Lehrerin aus dem Spiegel heraus angeschaut hatten – wenn auch blaue und nicht goldbraune.
Warum Tahawah den Kindern wohl kein Englisch beigebracht hatte? Wahrscheinlich war sie zu schüchtern gewesen. Doch wenn sie eines Tages von hier fortging, konnte die junge Frau vielleicht den Unterricht übernehmen.
Am nächsten Morgen fanden sich zehn Kinder zum Unterricht ein. Auf einer Wiese nahmen sie Platz, und man konnte ihnen deutlich ansehen, dass sie sich fragten, was es mit dem Unterricht wohl auf sich hatte. Tahawah, die den Unterrichtsplatz ausgesucht hatte, lächelte Marie ein wenig verlegen an. »Werden mehr, wenn
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