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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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Anschließend wurde ein Tag des Fastens eingelegt, der von allerlei heiligen Handlungen begleitet war. Marie wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, all die Bilder festzuhalten, die sich vor ihren Augen auftaten.
    Am Abend des Fastentages bat Onawah Marie, mit ihr zu kommen, um zu sehen, wie die Sonne im Wasser verschwand. Schweigend verließen sie das Lager und begaben sich an das Ufer des Sees, den Marie bisher nur aus der Ferne betrachtet hatte. Von hohen Nadelbäumen gesäumt, reichte er ein ziemliches Stück ins Land hinein, sodass man das andere Ufer nicht ohne Weiteres sehen konnte. Das Licht der Abendsonne verwandelte das Wasser in flüssiges Gold, auf dem vereinzelt ein paar Enten schwammen.
    Marie war überwältigt von diesem Anblick. Noch nie hatte sie solch einen Sonnenuntergang erlebt! Und noch nie solch einen Ort gesehen. Ein sehnsuchtsvolles Brennen zog durch ihre Brust. Ach, wenn doch Peter all das sehen könnte! Wir wollten doch eines Tages gemeinsam die Welt entdecken.
    »Es ist die richtige Zeit«, sagte Onawah und breitete die Arme aus. »Die Sonne geht gerade schlafen.«
    Tränen ließen das Bild vor Maries Augen verschwimmen. Was für ein wunderbarer Anblick!
    »Du weinst«, bemerkte die Heilerin. »Warum weinst du? Magst du nicht das goldene Licht?«
    »Doch«, näselte Marie, während sie sich über die Augen und Wangen wischte. »Es ist bloß so wunderschön! Ich weine, weil es so schön ist.«
    Als der glühende Feuerball halb hinter dem Horizont verschwunden war, entstand der Eindruck, als würde die zweite Hälfte im See auftauchen.
    Das meinte Onawah, wenn sie behauptete, die Sonne würde in den See steigen. Für einige Augenblicke ergaben die echte und die gespiegelte Sonnenhälfte ein perfektes Ganzes, dann sank das lebensspendende Gestirn noch tiefer und verschwand schließlich ganz hinter dem Horizont.
    »Meine Leute glauben, dass die Sonne jetzt ein Bad nimmt und in der Nacht auf unserer Seite wieder aus dem Wasser steigt.« Das verschmitzte Lächeln ließ Onawah auf einmal wieder wie ein junges Mädchen wirken, das sich an seinem eigenen Scherz erfreut.
    Maries Traurigkeit zog sich ein wenig zurück. Der Ort strahlte einen tiefen Frieden aus, der ihre verwundete Seele kühlte.
    »Wir sollten zurück«, sagte Onawah schließlich und zog sie bei der Hand mit sich zum Lager zurück.
    Den ganzen Weg über dachte Marie nach. Sie erfuhr hier so viel Freundlichkeit und Wärme, obwohl sie eine Fremde war! Wie sollte sie all das je vergelten?
    Als die ersten Sterne über dem Lager aufblitzten, hatte sie einen Einfall. »Onawah, was meinst du, hätten deine Leute wohl Interesse daran, Englisch zu lernen?«
    Die Heilerin blickte sie verwundert an. »Warum fragst du?«
    »Ich habe bemerkt, dass die meisten mich nicht verstehen. Aber ich finde, sie sollten die Sprache der Menschen in der Stadt kennen. Denn diese Menschen werden bestimmt nicht für immer dort bleiben.«
    »Da hast du recht, aber ich habe keine Zeit, es allen beizubringen.«
    »Ich könnte das tun!«, platzte Marie heraus. »In meiner Heimat habe ich Kindern auch etwas
    beigebracht. Ich war Lehrerin.«
    Onawahs Blick war noch immer skeptisch. »Wir bringen den Kindern bei, was wir wissen. Ältere
    lehren Junge. Kaum einer von uns hat hier eine gute Meinung über Weiße.«
    Auch nicht über mich?, fragte sich Marie ein wenig beklommen. »Oh, das wusste ich nicht, ich …«
    »Du bist anders. Dich nennen meine Leute weiße Wölfin. Wir freuen uns sehr, wenn du bleibst.« Marie zog überrascht die Augenbrauen hoch. Der Spitzname konnte doch nur von Onawah kommen,
    denn ihr hatte sie die Begegnung mit dem Wolf und ihren Traum anvertraut.
    »Ich werde mit den Frauen reden. Wenn sie wollen, dass ihre Kinder die Sprache des weißen Mannes
    lernen, sage ich es dir.« Onawahs herzliches Lächeln versicherte Marie, dass sie versuchen würde, ihre Leute zu überzeugen.
    Die Nachricht von Luises Tod löste bei meinem Vater keinerlei Gefühlsregung aus. Er hätte bestürzt sein müssen, immerhin war, wie mir später klar wurde, das Kind unter ihrem Herzen von ihm gewesen. Dadurch, dass er sie entlassen hatte, war sie dem Verderben erst recht preisgegeben worden. Doch er zeigte weder Trauer noch Bestürzung oder Mitleid. Er ging wie gewohnt seiner Arbeit nach und überließ mich der Haushälterin. Meinen Bruder jedoch rief er des Öfteren zu sich, um ihm Religionsunterricht zu geben. Peter fand das genauso seltsam wie ich, wir gingen doch

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