Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
wissen, was Unterricht ist.«
Marie schlug das Herz bis zum Hals. So aufgeregt war sie bei noch keiner Klasse gewesen. War sie etwa aus der Übung? Wahrscheinlich lag ihre Nervosität daran, dass sie fürchtete, sich lächerlich zu machen, denn die Kinder vor ihr waren in gewissen Dingen viel erfahrener und lebenstüchtiger als ihre europäischen Altersgenossen.
Als sie jedoch zu sprechen begann und Tahawah übersetzte, merkte sie, wie aufmerksam die Kinder zuhörten. Beim Nachsprechen der Worte haperte es noch ein wenig, doch stets antworteten alle im Chor, und sie wirkten sehr eifrig.
Als sie nach einer Stunde eine kurze Pause einlegten, strömten ein paar Frauen herbei. Wie Marie jetzt erkannte, hatten sie sich hinter den Baumstämmen verborgen und zugehört. Jetzt näherten sie sich neugierig und verlangten zu wissen, was ihre Kinder gelernt hätten. Tahawah erklärte ihnen alles geduldig, und Marie versuchte, angesichts der interessierten Blicke nicht allzu verlegen oder nervös zu wirken.
Als der Unterricht nach einer weiteren Stunde zu Ende ging, war Marie mit dem Ergebnis sehr zufrieden. »Das haben wir doch gut hinbekommen!«, sagte sie zu Tahawah. »Ich bin sicher, du würdest eine hervorragende Lehrerin abgeben. Ich kann es kaum abwarten, bis du mir eure Sprache beibringst.«
Die Cree-Frau errötete, doch auf ihren Lippen spielte ein stolzes Lächeln.
13. Kapitel
Das Unterrichten der Cree-Kinder machte Marie großen Spaß, auch wenn es so vollkommen anders war als das, was sie aus bisherigen Schulen kannte. Tahawah war eine großartige Übersetzerin, die durch die Arbeit ihr eigenes Sprechen verbesserte und gleichzeitig begann, Marie die ersten Worte in der Sprache der Cree beizubringen.
Obwohl sie sich vornahm, sie zu notieren, lernte Marie die Worte eher nach dem Gehör. Ebenso, wie der Wortschatz der Kinder zunahm, nahm auch ihrer zu, sodass sie kurze Unterhaltungen schon bald auf Cree führen konnte.
Die Kinder zeigten sich sehr gelehrig, und obwohl sie nicht schreiben konnten, lernten sie sehr viele englische Vokabeln allein durchs Zuhören. Nach und nach gesellten sich auch Frauen und einige Krieger zu den Schülern, um mitzulernen. Anschließend versuchten sie schüchtern, mit ihr zu sprechen und die neuen Worte anzuwenden.
So gingen zwei Monate ins Land, in denen sie immer mehr über die Cree erfuhr, ihre Bräuche studierte und ihre Sprache übte. Während sie tagsüber kaum Zeit hatte, um nachzudenken, weil auch Onawah immer wieder ihre Hilfe bei den Kräutern benötigte, schlichen sich nachts die Gedanken und das schlechte Gewissen an. Sollte sie nicht versuchen, wieder in die Zivilisation zu kommen? Immerhin wartete ihr Verlobter auf sie. Doch im Lager der Cree gefiel es ihr wirklich gut, und sie verstand allmählich, warum sich manche weiße Frauen dafür entschieden hierzubleiben.
Vielleicht sollte ich es in die Hände Gottes legen, dachte sie, als sie sich wieder einmal unruhig auf ihrem Lager wälzte. Wenn er will, dass ich zu meinem Verlobten komme, soll er mir ein Zeichen schicken. Und wenn meine Zukunft hier liegt, soll er schweigen.
Nachdem sie sich am Morgen wie immer in aller Frühe erhoben hatte, um im nahen See zu baden, fand sie sich nach einem kurzen Frühstück am Unterrichtsplatz ein, den mittlerweile Bänke aus umgestürzten Baumstämmen zierten. In der Mitte erhoben sich zwei Klötze für Marie und Tahawah, mit der sie sich mittlerweile den Unterricht teilte.
Versonnen lächelte Marie vor sich hin, als sie ihren Blick über die Lichtung schweifen ließ. Dabei fiel ihr ein, dass sich der Wolf schon lange nicht mehr hatte blicken lassen. Konnte sie das als Schweigen Gottes interpretieren? Dass er wollte, dass sie hierblieb?
Tahawah wirkte an diesem Morgen nervös, ja beinahe abwesend.
»Was ist?«, fragte Marie besorgt. »Geht es dir nicht gut?«
»Doch, es ist nur … ich aufgeregt wegen Hochzeit. Onawah mir erzählt, was Mann erwartet, und das macht Angst.«
Marie hielt den Atem an. Wieder musste sie an Ellas Worte denken, dass Pastoren manchmal sehr viele Kinder hatten. Seltsamerweise hatte sie noch nicht weiter darüber nachgedacht.
»Du hast doch auch Mann, den du heiraten willst«, fuhr Tahawah fort. »Wie ist bei dir?«
»Ich habe meinen Mann noch nicht mal kennengelernt. Und wer weiß, ob ich ihn je treffen werde«, entgegnete sie. »Ich bin jetzt schon mehr als zwei Mondläufe hier.«
»Das heißt, du bleibst hier? Dann wir finden Mann für dich!
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