Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
eine turbulente Zukunft vorhergesagt hatte. Das alles hatten ihr die Banditen nicht nehmen können, auch wenn diese Momente für immer mit Schmerz überzogen waren.
»Was machen die anderen?«, fragte sie, als sie das Band wieder zurücklegte.
»Sie begraben die Männer. Da Sie ohnmächtig geworden sind, haben Sie mich vor der Arbeit bewahrt.«
»Nehmen Ihnen die anderen das nicht übel?«
Philipp schüttelte den Kopf. »Nein, Mr Jennings hat mir sogar aufgetragen, dass ich mich um Sie kümmern soll. Drecksarbeit haben sie während unserer Reise noch genug für mich, keine Bange.«
Mit erdverschmierten Händen und Knien tauchte Jennings vor ihnen auf. Offenbar waren er und seine Kameraden fertig. Marie beneidete ihn nicht um die Aufgabe, die hinter ihm lag. Sie selbst war froh, von den Toten nichts gesehen zu haben.
»Hat sie sich wieder erholt?«, wandte sich Jennings an Carter, als er zu ihnen trat.
»Ja, ich denke schon.« Philipp zwinkerte ihr aufmunternd zu.
»Stimmt das, Miss?«
Marie nickte. »Ja, Mr Jennings, ich glaube, ich kann weiterreiten.«
»Ich hatte übrigens mit meiner Vermutung recht, Sir«, antwortete Carter. »Miss Blumfeld sagt, es sei ihr Treck gewesen.«
Der Anführer der Händler spuckte wütend auf den Boden. »Diese verdammten Hunde! Wissen Sie, wie viele Frauen auf den Wagen waren, Miss?«
»Mr Jennings, sehen Sie denn nicht …«, begann Philipp, doch da antwortete Marie bereits. Die Frage hatte die Umklammerung ihrer Kehle gesprengt.
»Wir waren fünfunddreißig. Fünf Frauen auf jedem Wagen.«
»Himmel noch mal! Dann haben diese Mistkerle vierunddreißig in ihrer Gewalt.«
»Vielleicht ist es einigen gelungen zu fliehen!« Marie blickte die Männer in der Hoffnung auf Bestätigung an. Doch ihre Mienen sagten etwas anderes.
»Niemand entkommt den Menschenhändlern, jedenfalls nicht ungestraft«, sagte Jennings finster. »Wenn die Mädchen aufmucken oder versuchen wegzulaufen, bringen sie sie nicht etwa um. Sie brechen ihnen die Beine und nehmen sie dann auf Tragen mit. Wenn sie nicht am Wundbrand krepieren, werden sie so an irgendwelche Kerle oder Bordelle verkauft.« Ohne Maries Schaudern zu beachten, fuhr er fort: »Sie können von Glück reden, dass die Kerle zu viel zu tun hatten, um nachzuprüfen, ob Sie auch wirklich tot waren. Eigentlich verschwenden sie nichts und nehmen alles mit, was halbwegs am Leben ist. Sie sollten heute Nacht dem Herrn besonders gut danken, so viel Gnade zeigt er nur selten jemandem.«
Marie bezweifelte, dass Gott etwas mit ihrer Rettung zu tun hatte. Jedenfalls nicht der Gott, dem ihr Vater gedient hatte. Onawahs Erzählung vom weißen Wolf, der angeblich ihr Schutzgeist war, ihr Krafttier, erschien ihr nach ihrem Aufenthalt bei den Cree irgendwie plausibler. Vielleicht hatte sie ja wirklich einen Beschützer, der über sie wachte und der dafür gesorgt hatte, dass ihr Unglück, gemessen an dem der anderen, verhältnismäßig klein war.
»Kommen Sie, Miss, wir sollten weiterreiten.«
Carters Hand legte sich tröstend auf ihre Schulter. Erst jetzt bemerkte Marie, dass Jennings schon wieder zu seinen Leuten gegangen war. Das Band fest umklammernd erhob sie sich und ordnete ihre Röcke.
»Das ist ein sehr schönes Haarband.« Carter deutete auf ihre Hand. »Sie sollten es unbedingt jetzt schon tragen. Nach dem, was wir hier eben gesehen haben, wäre es gut, etwas Hübsches vor Augen zu haben.«
Sein gewinnendes Lächeln schob die dunklen Wolken über ihrem Gemüt ein wenig beiseite, sodass zumindest ein Sonnenstrahl hindurchdringen konnte.
»In Ordnung, wenn es Ihnen Freude macht …«
Mit geübten Händen flocht sie das Band in ihren Zopf. Carter, der sie dabei beobachtete, lächelte still vor sich hin, dann bot er ihr den Arm an, um sie wieder zum Pferd zurückzuführen.
An einem trüben Herbsttag trat uns bei der Rückkehr aus der Schule unser Vater entgegen. Er war sehr blass, was vom Schwarz seines Lutherrocks noch verstärkt wurde.
Unwillkürlich griff Peter nach meiner Hand, als wollte er mir Halt geben. Wahrscheinlich spürte er bereits, was Vater uns sagen wollte. Mit einer Miene, die eher erleichtert als traurig wirkte, musterte er zuerst Peter und dann mich, bevor er sagte: »Gott hat eure Mutter zu sich genommen.«
Während mein Bruder meine Hand drückte, schien etwas in meinem Innern zu bersten. Sieben Jahre lang war meine Mutter nur noch ein Schatten gewesen, der sich selten aus seiner Schlafstube bewegt und noch
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