Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
das sind noch nicht alle.«
Marie kniff entsetzt die Augen zusammen. Zwanzig Männer hatten den Treck begleitet. Als die Krieger sie gefunden hatten, waren sie auch auf die Leichen von Johnston und anderen getroffen. Offenbar hatten die Banditen wirklich alle Männer des Trecks getötet. Und die Frauen?
»Die Männer, die hier liegen, wurden regelrecht hingerichtet«, setzte Mr Jennings hinzu. »Kopfschüsse und Schüsse in die Brust. Sie müssen sich ergeben haben, in der Hoffnung, dass die Banditen sie dann verschonen würden.«
»Wir sollten sie begraben!«, schlug Brian vor. »Auf einem Wagen habe ich zwei Schaufeln gesehen. Bestimmt ist auf den anderen Wagen auch noch etwas, das wir gebrauchen können.«
Auf einmal war es Marie, als würde ihr eine kleine Stimme sagen, dass sie zur Seite blicken sollte. Etwas lag da im Gras. Offenbar hatte es ein Bandit zunächst für wertvoll gehalten, dann aber weggeworfen, als er seinen Inhalt genauer angesehen hatte.
Marie riss sich los.
»Warten Sie!«
Marie stolperte auf die kleine Schachtel zu, die auf dem Boden lag. Sie war durchgeweicht und schmutzig, beinahe nicht mehr als das zu erkennen, was sie vor einigen Monaten einmal gewesen war.
Als Marie den Deckel anhob, der unter ihrer Berührung beinahe zerfiel, blitzte ihr etwas Türkisblaues entgegen: das Haarband, das Johnston ihr geschenkt hatte!
Erschrocken sank sie auf die Knie und schlug die Hand vor den Mund.
»Was ist mit Ihnen, Miss?« Carter trat neben sie.
Marie rang nach Worten. »Dieses Haarband hatte mir der Anführer des Trecks gekauft. Als Lohn für meine Übersetzerdienste.«
Marie zog das Haarband hervor. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie an den Nachmittag dachte, an dem sie mit Johnston in der Stadt unterwegs gewesen war.
Carter legte tröstend die Hand auf ihre Schulter. »Sie sollten Gott für Ihr Glück danken, Miss. Wer weiß, wie es den Frauen geht, die von den Menschenhändlern verschleppt wurden.«
Marie schnürte es die Kehle zusammen. Ein Schmerz bohrte sich in ihre Körpermitte wie ein Indianerspeer. Was war aus Ella geworden? Und den anderen? Durchlitten sie jetzt die Hölle, während sie ihrer Zukunft entgegenging? War es die Hand Gottes gewesen, die sie aus dem fahrenden Wagen gestoßen hatte?
Auf einmal wurde ihr schwindlig. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken wie auf dem Dampfschiff bei starkem Seegang. Gleichzeitig erschienen ihr ihre Beine so schwer, als wäre Blei an ihnen festgebunden.
Hilfesuchend griff sie zur Seite und spürte Carters Jacke unter ihren Fingern. Dann wurde die Welt zu einem grellen Licht.
16. Kapitel
Wie sie zum Wegrand gekommen war, wusste Marie nicht. Sie hatte zwar Carters Hand an ihrem Arm gespürt und mitbekommen, dass er sie auf seine Arme gehoben hatte, doch alles andere war aus ihrer Erinnerung verschwunden.
Nun fand sie sich inmitten von leuchtend rotem Paintbrush, Farn, Lupinen und Baldrian wieder, auf einem Stein, der aussah, als hätte man ihn zufällig in der Landschaft fallen lassen.
»Na, geht es wieder?« Carter hockte mit besorgtem Gesichtsausdruck neben ihr. »Sie haben mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«
»Verzeihen Sie. Ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war das doch alles ein bisschen viel.« Als Marie aufsah, stellte sie fest, dass sie sich ein gutes Stück von den Wagen entfernt befand.
»Kann ich verstehen. Möchten Sie vielleicht noch irgendwas vom Treck? Ist von Ihrer Habe noch etwas da?«
Marie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, davon will ich nichts. Meine Kleider und Unterhemden haben die Banditen zerschnitten. Aber das Haarband …«
Philipp zog die Schachtel unter seiner Jacke hervor und reichte sie ihr lächelnd. »Hab ich mir doch gedacht, dass das wichtig für Sie ist.«
Marie nickte ihm dankbar zu. »Sogar ziemlich wichtig. Es wird mich immer an den Treck erinnern, auch wenn diese Erinnerung keine besonders gute ist.«
»Auch schlechte Erinnerungen haben ihren Wert«, pflichtete Carter ihr bei. »Man lernt aus ihnen. Und irgendwann kann man sie auch betrachten, ohne Schmerz zu fühlen.«
Marie öffnete die Schachtel und schmiegte das Band an die Wange, ohne dass es ihr peinlich war, dass Carter diese intime Geste beobachtete. All die schönen Momente zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Das morgendliche Bad in irgendwelchen Wasserlöchern, Ellas manchmal grobe Scherze, die Stille, die Marthe ausstrahlte, wenn sie stickte. Und Johnston, der ihr aus der Hand gelesen und
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