Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
abstützte, war Mitte vierzig, trug zu seiner kurzen blonden Lockenfrisur einen Backenbart und blickte sie aus blauen Augen neugierig an.
»Entschuldigen Sie bitte, ich …« Marie fühlte sich auf einmal wieder wie damals, als sie der Rektorin des Lyzeums zum ersten Mal entgegengetreten war. Doch als der Fremde, der wahrscheinlich ein Lehrer war, sie aufmunternd anlächelte, straffte sie sich wieder. »Ich bin neu in der Stadt und habe auf meinem Spaziergang Ihre Schule entdeckt.«
Der Mann zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Es ist recht ungewöhnlich, dass eine junge Frau wie Sie auf ihrer ersten Tour durch die Stadt gerade an der Schule hängen bleibt, finden Sie nicht? Die meisten interessieren sich doch eher für die Auslagen der Schaufenster.«
»Die habe ich bereits hinter mir«, gab Marie zu. »Nur leider fehlen mir die Mittel, um etwas zu kaufen, also bin ich gezwungen, nach geistiger Nahrung zu suchen.«
Der Mann lachte auf. »Sie scheinen keine schlechten Erfahrungen mit Ihrer eigenen Schule gemacht zu haben, wenn Sie gerade hierherkommen. Immerhin gibt es für geistige Erbauung die Kirche, und die alte Mrs Mariano unterhält in ihrem Haus in der Maple Street eine kleine Bibliothek.«
»Auf die Bibliothek komme ich gern zurück, aber ich weiß leider nicht, wo sie sich befindet. Die Schule lag auf meinem Weg, also dachte ich, schaue ich sie mal an.«
»Woher kommen Sie, Miss, wenn ich fragen darf?«
»Aus Deutschland.« Der Name ihres Dorfes würde ihm ohnehin nichts sagen, also verschwieg sie ihn.
»Und da sprechen Sie so hervorragend Englisch?« Dem Mann schien das Gespräch mit ihr offensichtlich Spaß zu machen, was Maries Selbstvertrauen ein wenig stärkte.
»Ich hatte auf der Überfahrt und während der Reise genügend Gelegenheit zum Üben. Die Besatzung des Schiffes hat fast nur Englisch gesprochen.«
»Wissen Sie was, darüber müssen Sie mir mehr erzählen«, rief der Mann begeistert. »Kommen Sie, ich schließe Ihnen die Tür auf!«
Mit pochendem Herzen starrte Marie auf das nunmehr leere Fenstergeviert, dann stieg sie die Treppe hinauf. Seltsam, dachte sie, ich bin vor dem Betreten einer Schule aufgeregter als bei der Begegnung mit meinem Verlobten.
Ihre Aufregung erreichte den Höhepunkt, als aufgeschlossen wurde und der Fremde ihr entgegentrat. Er überragte Marie um etwa einen Kopf und wirkte wie der typische Lehrer. Seine kräftige Gestalt strahlte Autorität aus, ohne grob oder grausam zu wirken. Das offene Gesicht wirkte beinahe kindlich neugierig, doch Marie konnte sich auch gut vorstellen, wie es sich verfinsterte, wenn die Schüler über die Stränge schlugen. »Mein Name ist James Isbel, ich leite diese Schule.« Er streckte ihr eine breite, etwas kreideverschmierte Hand entgegen.
»Marie Blumfeld, ich bin die Verlobte von Reverend Plummer«, antwortete Marie.
Isbel wirkte überrascht. »Der Reverend will heiraten?«
»Ja, offensichtlich.« Marie erinnerte sich wieder an den Aufschub. »Allerdings wurde die Hochzeit wegen des Todes der Mutter verschoben, wie mir inzwischen mitgeteilt wurde.«
»Ja, ich erinnere mich. Die Gute kränkelte schon eine ganze Weile. Nach dem Schlaganfall hat sie sich nicht wieder erholt. Es war eine Gnade, dass sie zu Gott gerufen wurde.« Isbel sah sie prüfend an. »Bitte verstehen Sie meine Neugier nicht falsch, aber wie kommt eine Frau aus Deutschland dazu, einen Mann in Kanada zu heiraten? Noch dazu in dieser Gegend! Sie werden Ihr Herz sicher nicht auf normalem Wege an ihn verloren haben, oder?«
Genau genommen hatte sie ihr Herz noch gar nicht an ihn verloren. Was sie wirklich für ihn fühlte, wusste sie nicht. Er war nett, ohne dass sie besondere Sympathie für ihn empfand. Da sie von vielen Ehen wusste, dass die Liebe dort erst mit der Zeit erwacht war, hoffte sie darauf, dass eines Tages dasselbe auch zwischen ihr und Jeremy der Fall sein würde.
»Ich wollte ein neues Leben anfangen und las eine Heiratsanzeige, in der Frauen für Kanada gesucht wurden. Da habe ich mich gemeldet.«
»Gab es einen bestimmten Grund dafür?«
Marie presste die Lippen zusammen. Den Grund hatte sie nicht einmal ihren Mitreisenden vom Treck offenbart, wieso sollte sie ihn einem Wildfremden nennen?
»Nach dem Krieg waren die Zustände in unserem Land nicht mehr tragbar und die Armut groß«, antwortete sie ausweichend. »Ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen.«
Angesichts der Nachdenklichkeit, mit der Isbel sie betrachtete, fragte sie
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