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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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war, war ich andauernd müde.«
    Marie schnappte empört nach Luft. Wie konnte Stella so etwas behaupten! All ihre Kraft und ihre Vernunft aufbietend zwang sie sich, in ihrem Versteck zu bleiben, obwohl sie dieser Tante am liebsten gründlich den Kopf gewaschen hätte.
    »Ich habe nicht den Eindruck, dass sie unkeusch ist«, sprang Plummer da wieder für Marie in die Bresche. »Sie ist die Tochter eines Amtsbruders und hat eine gute Erziehung genossen. Außerdem ist sie nach all den Strapazen sicher erschöpft.«
    »Es muss ja nicht mal ihr freier Wille gewesen sein«, beharrte Stella auf ihrer Behauptung. »Wer weiß, vielleicht haben sie ihr Gewalt angetan.«
    Marie ballte die Fäuste. Wie konnte sie nur so etwas behaupten! Jetzt wusste sie auch, warum Stella sie ständig um sich haben wollte. Sie wartete nur auf Anzeichen einer Schwangerschaft!
    Als Stella noch immer nicht von ihren Anschuldigungen abließ, beschloss Marie, das Haus zu verlassen und einen kleinen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Sonst reiße ich der alten Hexe heute noch alle Haare aus!, dachte sie wütend.
    Mittlerweile neigte sich der Nachmittag dem Abend zu. Als Marie die Haustür vorsichtig hinter sich zugezogen hatte, schloss sie die Augen und atmete tief ein. Die Luft war mild und durchsetzt vom Duft nach Rosen und Laub. Hufgetrappel und das Rasseln von Wagenrädern wiesen ihr den Weg in die Innenstadt von Selkirk, die sich ihr sauber und ordentlich präsentierte. Jeremy hatte recht, viele Gebäude waren hier noch sehr neu. Befestigte Straßen gab es keine, dafür aber lange hölzerne Gehwege aus grob behauenen Balken, die so erhöht waren, dass sie den Passanten auch dann einen trockenen Weg garantierten, wenn sich die Straße unter einem Regenguss in eine Schlammwüste verwandelte.
    Nach einer Weile entdeckte sie ein paar ganz reizende Geschäfte, deren Inhaber recht gut zu verdienen schienen, wenn man sich den Zustand der Gebäude ansah. In den Auslagen fanden sich neben Kleidern und Küchengeräten auch Dinge, die in Deutschland nur in Apotheken zu finden waren. Schon an den Schaufenstern erkannte sie, dass die sogenannten »Drugstores« anders waren als vergleichbare Geschäfte in ihrer Heimat.
    Ein sogenanntes »Warenhaus«, ein zweistöckiges Gebäude mit zwei verhältnismäßig großen Schaufenstern, komplettierte das Angebot. Da sie kein Geld besaß, verzichtete sie darauf, einen Blick ins Innere zu werfen. Das kann ich immer noch tun, wenn ich erst einmal eine Anstellung gefunden habe.
    Je mehr sie entdeckte, desto mehr verflog der Ärger auf die Tante ihres Verlobten. Fasziniert betrachtete sie die Passanten und Passantinnen, die doch recht anders gekleidet waren als in Deutschland. Besonders die breiten Röcke der gut situierten Damen fielen ihr ins Auge. In Deutschland bevorzugten die Frauen, der englischen und französischen Mode folgend, eher enger geschnittene Röcke, doch hier hatten Krinolinen Hochkonjunktur! Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, sich in solche Ungetüme zu kleiden. Aber von ihr als Frau des Reverends wurde sicher ohnehin nicht erwartet, dass sie sich aufputzte.
    Nachdem sie die Geschäfte hinter sich gelassen hatte, tauchte vor ihr ein Gebäude auf, das sie dazu brachte, staunend stehen zu bleiben. Ein bittersüßer Schmerz erwachte in ihrer Brust, als sie die blank polierte Glocke neben dem Eingang des weiß gestrichenen Hauses sah. Nie zuvor hatte Marie eine so hübsche Schule gesehen.
    Die Treppe war nagelneu und mit Schnitzereien geschmückt. Die hohen, viergeteilten Fenster sorgten für ausreichend Licht in den Klassenräumen. In den oberen Etagen befanden sich wahrscheinlich die Kabinette für das Unterrichtsmaterial und die Arbeitszimmer der Lehrer. An den hübschen Gardinen im hinteren Teil erkannte sie, dass sich dort auch eine Wohnung befand, wahrscheinlich die des Schulmeisters.
    Sehnsüchtig streckte Marie die Hand nach dem sorgfältig polierten Treppengeländer aus und streichelte das frisch gestrichene Holz. Ach, wenn sie doch nur wieder unterrichten könnte! Obwohl sie ein wenig mit den Kindern der Indianer gearbeitet hatte, fehlte ihr doch der Lärm und die Dynamik einer richtigen Schulklasse. Was könnte sie den Kindern alles erzählen und beibringen!
    »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
    Erschrocken wirbelte Marie herum. So vertieft war sie in ihre Gedanken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie eines der Fenster geöffnet wurde. Der Mann, der sich auf dem Fensterrahmen

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