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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
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sich, ob er wohl den wahren Grund ahnte. Nein, dazu war niemand in der Lage.
    »Wenn Sie in nächster Zeit heiraten wollen, ist es vielleicht auch nicht so abwegig, an Nachwuchs zu denken, oder?«
    Marie zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Bis dahin ist aber noch viel Zeit.«
    »Es ist nie zu früh, sich den Ort anzusehen, an dem die eigenen Kinder lernen werden, oder? Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Klassenzimmer.«
    Zögernd folgte Marie dem Lehrer ins Innere und fühlte sich beinahe wie an dem Tag, als sie zum ersten Mal das Schulhaus ihres kleinen Dorfes betreten hatte. Der Zauber, den andere Schüler eher als Schrecken empfunden hatten, nahm sie sofort wieder gefangen, als sie auf die Reihen der Holzbänke und die Tafel blickte, an der Kreideschlieren von vergangenen Unterrichtsstunden kündeten.
    Für einen Moment meinte sie wieder das Kratzen der Griffel auf den Schiefertafeln zu hören, das verstohlene Wispern, wenn ein Text abgeschrieben werden musste. Während ihre männlichen Kollegen auf Störungen mit dem Rohrstock reagiert hatten, hatte sie sie geflissentlich überhört und nur selten mit Worten eingegriffen.
    »Schön, nicht wahr?« Isbels Worte rissen sie aus ihren Gedanken. »Die Schule ist der ganze Stolz der Stadt. Und auch meiner. Ich weiß nicht, wie viele Monate ich damit zugebracht habe, neben meiner Arbeit auch noch beim Bau mitzuhelfen.«
    »Wo haben Sie denn unterrichtet, solange das Schulhaus noch nicht fertig war?« Marie musste sehr aufpassen, dass sie nicht wieder in ihre Erinnerungen abglitt.
    »In einem Raum in der Town-Hall, dieser großen Bretterbude, in der unser Bürgermeister residiert.« Schwang da ein Hauch Abneigung in seiner Stimme mit? »Ich kann Ihnen sagen, das war das größte Chaos, das ich je erlebt habe. Wenn Kinder zu eng beieinander sitzen, entsteht leicht Unruhe, die man nicht ohne Weiteres vermeiden kann. Mir widerstrebt es, den Rohrstock zu benutzen, weil ich glaube, dass man Kinder nicht mithilfe von Gewalt erziehen sollte. Aber dort war ich beinahe versucht, zu radikalen Methoden zu greifen. Wahrscheinlich war das mein Antrieb, auch noch meine freie Zeit der Schule zu opfern.«
    Marie war da anderer Meinung. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, dass Isbel auch dann mitgeholfen hätte, wenn die Ausweichlösung nicht so katastrophal gewesen wäre.
    Der Lehrer führte sie auch noch in das zweite Klassenzimmer, in dem die älteren Schüler unterrichtet wurden. Aus der Naturkunde standen noch einige Präparate auf dem Tisch. Die Schlangen und Echsen in den alkoholgefüllten Gläsern waren Marie unbekannt – bis auf jene kleine Echsenart, die Onawah ihr gezeigt hatte. Das Tierchen, das in Cree übersetzt Fliegenfänger genannt wurde, war schon ein wenig verblichen und wirkte mitleiderregend.
    »Nun, ich würde mich sehr freuen, wenn ich eines Tages Ihre Kinder hier unterrichten dürfte, Miss Blumfeld«, sagte Isbel am Ende der kleinen Führung.
    »O ja, natürlich.« Marie widerstrebte es, jetzt schon zu gehen. Zu gern hätte sie gesehen, welche Schätze die Kabinette aufwiesen, doch wahrscheinlich wollte der Lehrer endlich Feierabend machen. »Dann werde ich Sie nicht mehr länger aufhalten. Vielen Dank, dass Sie mich hereingelassen haben.«
    »Es war mir ein großes Vergnügen, Miss Blumfeld. Wenn Sie noch einmal das Bedürfnis nach geistiger Erbauung haben, kommen Sie ruhig wieder. Ich kann Ihnen ebenfalls Bücher leihen, wenn Sie möchten. Zwar keine Romane, aber sehr gute Sachbücher und Reiseberichte.«
    »Danke, das ist sehr freundlich«, entgegnete Marie, die ihm gern gesagt hätte, dass sie Sachbücher den meisten Romanen vorzog, wenn sie die Wahl hatte. »Ich werde auf Ihr Angebot bestimmt zurückkommen.«
    Isbel lächelte den ganzen Weg zur Tür und verabschiedete sich dann mit einem kräftigen Händedruck.
    Den ganzen Weg über fühlte sich Marie seltsam beschwingt, als sei sie soeben der Liebe ihres Lebens begegnet. An James Isbel lag das nicht; ihr war nicht entgangen, dass ein Ehering an seinem Finger glänzte. Nein, es war die Schule! Gewiss würde sie sich dort wieder blicken lassen, wenn sie sich ein wenig eingelebt hatte.
    Glockenläuten holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sieben Uhr! War sie doch so lange in der Schule gewesen? Ihr war es gar nicht so vorgekommen.
    Schon als sie über die Schwelle von Stellas Haus trat, ahnte Marie nichts Gutes. Der Duft des Abendessens hing in der Luft, und wahrscheinlich hatte man ihr Fehlen bereits bemerkt.

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