Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
paar andere Dinge. Stellen Sie sich vor, bei den Indianern gibt es keine Schule. Alles, was sie wissen müssen, lernen sie von den Stammesleuten, nur leider sind dort nur wenige in Sprachen bewandert.«
Isbels Miene verfinsterte sich ein wenig. War es ihm nicht recht, dass sie Indianern etwas beigebracht hatte? Dass er so wie Stella und ihre Tochter sein würde, denen man die Feindseligkeit mit jedem Wort, das von den Indianern handelte, anmerkte, hätte sie nicht gedacht.
Augenblicklich verstummte sie. Isbel musterte sie so eindringlich, dass sie am liebsten kehrtgemacht und aus dem Klassenzimmer gelaufen wäre. Ihre Enttäuschung verbergend blieb sie steif stehen und räusperte sich.
»Das ist sehr interessant«, begann Isbel schließlich, nachdem er sie noch eine Weile gemustert hatte. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der bei den Cree war. Händler halten natürlich Kontakt mit ihnen, aber solche Leute treffe ich hier im Schulhaus nur selten. Sagen Sie, wie sind diese Menschen?«
Marie blickte überrascht auf. Sein Schweigen und der Schatten in seinem Blick hatten ihre Ursache also nicht in Feindseligkeit den Indianern gegenüber?
»Das könnte aber eine ziemlich lange Geschichte werden.«
Isbel hob die breiten Hände, in deren Linien immer noch Kreidereste hingen. »Dann nehmen Sie Platz. Der Unterricht ist für heute vorbei, und die Arbeiten, die ich noch zu erledigen habe, können warten.«
Nachdem Marie und Isbel hinter gegenüberliegenden Schulbänken Platz genommen hatten, begann sie zu berichten. Der Lehrer folgte ihren Ausführungen über die Bräuche, die Heilmittel, Kochrezepte und Jagdbräuche so interessiert, dass sämtliche Zweifel, er könne etwas gegen die Cree haben, zerstreut wurden.
»Das hört sich sicher wie ein Märchen an, oder?«, schloss sie und lächelte Isbel scheu an.
»Nicht wie ein Märchen«, gab dieser zurück. »Eher wie ein gut gemachter Reisebericht. Vielleicht sollten Sie einen verfassen.«
»Ich glaube nicht, dass ich dazu begabt bin«, wehrte Marie ab. »Ich kann mir lediglich viel merken und es auch wiedergeben, wenn ich gefragt werde.«
Isbel blickte sie nachdenklich an. Als Marie begann, sich angesichts seiner Aufmerksamkeit etwas unwohl zu fühlen, sagte er plötzlich: »Hören Sie, was Ihre Vermutung angeht, wir seien hier sehr gut mit Lehrern versorgt, liegen Sie vollkommen falsch. Ich bin momentan der einzige Lehrer hier; ein Kollege, der hier bis vor drei Monaten gearbeitet hat, ist leider fortgegangen. Lehrer sind äußerst rar in der Gegend.«
Maries Herz setzte einen Schlag aus. Was meinte er damit? Sie wagte es gar nicht weiterzudenken.
»Können Sie denn niemanden anlernen? Ich habe etliche Frauen auf der Straße gesehen.«
»Auf der Straße mögen Sie vielleicht so einige Frauen sehen, doch das sind meist Ehefrauen und keine, die zum Unterricht geeignet wären. Gern würde ich für die heranwachsenden Mädchen Handarbeit und andere Dinge, die sie lernen könnten, anbieten, doch ich habe davon leider keine Ahnung. Genauso geht es mir bei Geografie, von einer Fremdsprache mal ganz abgesehen. Mein Französisch ist recht gut, nur leben in dieser Gegend meist englischstämmige Menschen, die kein Interesse an Französisch haben. Aber ich habe mir sagen lassen, dass es in Amerika und auch in der näheren Umgebung einige deutsche Auswanderer gibt.«
Isbel machte eine Pause, um ihr die Gelegenheit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten. »In welchen Fächern sind Sie besonders gut?«, fragte er dann. »Was sind Ihre Fachgebiete?«
»Geografie und Naturkunde.« Eine Ahnung erfasste Marie. Nein, das konnte nicht sein! »Und Deutsch natürlich.«
Isbel klatschte in die Hände. »Wunderbar! Hätten Sie Lust, an meiner Schule als Lehrerin zu unterrichten?«
Vor Überraschung stand Marie der Mund offen. Das konnte er doch nicht ernst meinen!
»Ich … aber …«
»Sie wollen doch wieder unterrichten, oder? Ihre Ausbildung wäre doch verschenkt, wenn Sie es einfach aufgeben würden. Außerdem sehe ich diesen Funken in Ihren Augen, der in jedem leidenschaftlichen Lehrer brennt.«
Marie rang mit sich. Obwohl sie insgeheim von solch einem Angebot geträumt hatte, zweifelte sie, ob sie es annehmen sollte. Würde sie den Anforderungen hier gerecht werden? Dies war immerhin ein fremdes Land, dessen Sitten sie noch nicht kannte.
»Ja!«, platzte es unerwartet heftig aus ihr heraus, worüber Marie selbst erschrak. »Ja, ich will gern unterrichten. Aber Sie
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