Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
die Arme in die Höhe und warf sich dann zurück, um an die Stuckdecke zu starren.
Ich habe es geschafft! Ich darf wieder unterrichten!
Nachdem sie sich Isbels Reaktion auf ihre Nachricht ausgemalt hatte, erhob sie sich wieder und zog ihr Tagebuch aus der Tasche. War heute ein guter Abend für Erinnerungen?
Zunächst wollte Marie das Buch wieder weglegen, doch dann fragte sie sich, wie sie die Stunden bis zum Morgen sonst herumbringen sollte. Am liebsten wäre sie jetzt bereits zu Isbel gelaufen, doch abgesehen davon, dass er sicher seine Ruhe haben wollte, wollte sie auch keinen falschen Eindruck bei seiner Frau erwecken.
Da sich der Schlaf auch weiterhin weigerte, zu ihr zu kommen, erhob sich Marie schon vor Morgengrauen aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Nachdem sie sich rasch gewaschen hatte, ging sie in die Küche, um sich auf die Suche nach einem Becher Milch zu machen. Nach einem üppigen Frühstück war ihr ohnehin nicht zumute. Alles, was sie wollte, war zur Schule zu laufen und James Isbel Bescheid zu geben. Nachdem sie keine Lust mehr gehabt hatte, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, hatte sie sich daran gemacht, ihr ramponiertes Kleid auszubessern und zu bürsten. In einem der hübschen Kleider aus dem Warehouse würde sie natürlich einen besseren Eindruck machen, doch dieses konnte sie sich erst kaufen, wenn sie ihren ersten Lohn erhalten hatte.
Stella oder Rose um eines ihrer Kleider zu bitten, kam ihr nur kurz in den Sinn, dann verwarf sie die Idee gleich wieder. Sicher würden sie nichts dagegen haben, doch eingedenk ihrer Reaktion auf ihre Ankündigung verzichtete Marie lieber. Wenn ich erst einmal über und über mit Kreidestaub bedeckt bin, werden die ausgebesserten Stellen in meinem Rock nicht mehr auffallen, dachte sie.
Nach ihrem Katzenfrühstück hinterließ sie Stella eine kurze Nachricht auf dem Küchentisch und machte sich dann auf den Weg.
Um diese Zeit war die Stadt noch sehr ruhig. Der Anblick der Sonne, die sich gerade aus ihrem dunstigen rosa-grauen Bett erhob, erinnerte Marie wieder an Onawah. Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass sich Maries größter Wunsch erfüllte? Gleichzeitig dachte sie wieder an ihr Versprechen, die Schule zu den Cree zu bringen, damit sie sich besser mit den Weißen verständigen konnten. Das würde ein noch schwereres Unterfangen werden als die Sache mit der Anstellung hier. Während sie darüber nachdachte, fiel Marie auf, dass sie schon lange nicht mehr von dem weißen Wolf geträumt hatte. Bedeutete es, dass ihr im Moment keine Gefahr drohte?
Als sie das Schulhaus erreichte, war noch alles still, aber eines der Klassenzimmerfenster stand offen. Isbel war also wohl auch schon auf den Beinen.
Tief gegen ihre Aufregung durchatmend krallte Marie die Hände in ihren Rock und erklomm die Treppe. Ihre Befürchtung, dass abgeschlossen sein könnte, zerstreute sich, als sich die Klinke mühelos herunterdrücken ließ.
Von Bohnerwachsduft umhüllt, schritt sie über die knarrenden Dielen, während aus der Ferne das Ticken einer Uhr zu ihr herüberdrang – alles Geräusche, die sie bei ihrem ersten Besuch hier nicht wahrgenommen hatte. Aber in der morgendlichen Stille waren sie überdeutlich, auch wenn sie nicht vermochten, das Klopfen ihres Herzens zu übertönen.
»Mr Isbel?«, rief sie schließlich.
»Miss Blumfeld!« Isbel streckte den Kopf aus der Tür. An der Wange hatte er einen kleinen Schmutzfleck, und als er ganz aus dem Raum trat, trug er eine braune Schürze über seinen Kleidern und in der Hand eine volle Kehrschaufel, die er hastig wieder abstellte. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er, während er ein wenig verlegen seine Hände an der Schürze abwischte, bevor er ihr seine Rechte gab.
Marie zitterte am ganzen Leib, als sie antwortete: »Ich wollte Ihnen wegen Ihres Angebots Bescheid geben.«
Anspannung erfasste James Isbel. Wahrscheinlich deutete er Maries kreidebleiches Gesicht falsch, also sagte sie schnell: »Ich werde die Stelle bei Ihnen antreten.«
»Wirklich?«
Als Marie nickte, fühlte sie sich, als würde eine schwere Last einfach so von ihren Schultern gleiten. »Ja, ich habe mit meinem Verlobten gesprochen. Er hat nichts dagegen.«
Dass sie versprochen hatte, nach der Hochzeit wieder zu kündigen, verschwieg sie.
»Aber das ist ja wundervoll!« Isbel machte eine etwas unbeholfene Geste, dann legte er seine Hände kurz auf ihre Schultern. »Willkommen in meiner Schule, werte Kollegin!«
Marie hätte
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