Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
vor Freude laut aufschreien können.
»Allerdings können Sie nicht so vor meine Schüler treten.« Isbel deutete auf Maries Kleid, worauf sie beschämt errötete.
»Ich habe leider kein anderes. Beim Überfall ist meine Tasche weggekommen, und das Indianergewand habe ich nicht mitgenommen.«
»Das wäre hier auch nicht besonders passend gewesen«, lachte Isbel, dann band er die Schürze ab. »Ich glaube aber, dass wir eine Lösung finden. Kommen Sie mit.«
Während er sie den Gang entlang an einem weiteren Klassenzimmer vorbeiführte, fragte sich Marie, was er vorhatte. Gab es hier für Lehrerinnen so etwas wie eine Uniform?
Diese Frage wurde nebensächlich, als sie die Schulbänke des zur Straße gewandten Klassenzimmers sah, auf die sanftes, von Kreidestaub sichtbar gemachtes Morgenlicht fiel. In ein paar Stunden würde sie vor den Kindern stehen und endlich wieder ihrer liebsten Beschäftigung nachgehen.
»Kommen Sie, Miss Blumfeld, nur keine falsche Scheu!« Erst jetzt merkte Marie, dass sie ein wenig zurückgefallen war. Isbel stand bereits an der Treppe.
»Wie viele Schüler hat diese Schule eigentlich insgesamt?«, fragte sie, während sie gut ein Dutzend knarzender Stufen hinter sich brachten.
»Siebenundzwanzig Kinder aller Altersgruppen. Fünfzehn sind zwischen sechs und zehn Jahre alt, zwölf zwischen dreizehn und sechzehn. Und so habe ich sie auch auf die beiden Klassenzimmer aufgeteilt, damit sie weniger von dem Stoff der älteren oder jüngeren abgelenkt sind.«
»Dann sind Sie zwischen den Klassenzimmern immer hin und her gewechselt?«
Isbel lachte auf. »Eine komische Vorstellung, nicht wahr? Mich hat sie auch immer wieder amüsiert, auch wenn ich manchmal im jeweils anderen Klassenzimmer mit Papierkugeln begrüßt worden bin. Aber jetzt habe ich ja Sie, um die Burschen davon abzuhalten, auf mich zu schießen.«
Dass sich kanadische Kinder nicht wesentlich von deutschen unterschieden, brachte Marie zum Lächeln. Oben angekommen strebten sie einer offenen Tür zu, hinter der das Geklapper von Geschirr ertönte.
»Allison, Liebling, ich habe gute Neuigkeiten!«
Die Frau, die auf seinen Ruf hin erschien, trug eine blau karierte Schürze über dem doch recht ausgestellten grauen Rock, zu dem ihre weiße Gouvernantenbluse aber hervorragend passte. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten und im Nacken zu einem Dutt zusammengesteckt. Als sie Marie erblickte, ging ein Leuchten durch ihre blauen Augen. »Sie müssen die junge Lehrerin sein, von der James mir gestern so viel vorgeschwärmt hat.«
Marie errötete ob des Lobes, dann reichte sie der Frau die Hand.
»Mein Name ist Marie Blumfeld.«
»James hat mir übersetzt, was Ihr Nachname bedeutet; ein sehr schöner Name. Ich bin Allison Isbel.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Marie fiel auf, dass sie sich nicht von ihrem Mann vorstellen ließ. Und sie bemerkte auch den verliebten Blick, den James Isbel seiner Frau zuwarf. Wie lange mochten die beiden verheiratet sein?
»Wenn unser Sohn nach Hause kommt, werde ich Sie ihm vorstellen«, sagte Allison begeistert. »Er studiert weit im Westen, an der Universität von Toronto. Leider haben wir ihn nur in den Ferien hier, aber Sie haben doch sicher vor, noch ein wenig länger zu bleiben, oder?«
»Natürlich, Mrs Isbel.«
»Ach, nennen Sie mich doch Allison. Als Kollegin meines Mannes dürfen Sie das.«
Die unverfälschte, fröhliche Art der Lehrersgattin nahm Marie sofort für sie ein.
»Also gut, Allison, aber ich bestehe darauf, dass Sie mich Marie nennen.«
»Das wird mir nicht schwerfallen.« Allison Isbel strahlte zunächst sie, dann ihren Mann an. »Ich glaube, Marie wird unserem Sohn gefallen.«
»Du willst dich doch nicht etwa als Kupplerin versuchen?«, entgegnete James, dann legte er den Arm um sie und küsste sie auf die Schläfe »Wenn doch, muss ich dich leider enttäuschen, Miss Blumfeld ist bereits verlobt mit Reverend Plummer.«
»Oh!« Allison wirkte auf einmal ein wenig verwirrt. Hat sie gedacht, dass er keine Frau bekommt oder keine will?, fragte sich Marie verwundert. »Und Ihr Verlobter hat nichts dagegen, dass Sie an der Schule arbeiten?«
Marie schüttelte den Kopf. »Nein, denn die Hochzeit ist wegen des Todes seiner Mutter verschoben worden. Er hält es für richtig, wenn ich mir eine Beschäftigung suche.«
Allison blickte zu James. »So kann man sich in den Menschen täuschen.«
Bevor sich Marie über diese Bemerkung wundern konnte, sagte
Weitere Kostenlose Bücher