Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
glaube, ich werde heute sehr auf die älteren Burschen achtgeben müssen, damit sie keine Dummheiten machen.«
Allison blickte lächelnd zu Marie, die nervös ihre Hände knetete. »Ich denke eher, dass du Miss Blumfeld vor den Vätern schützen musst. Sie werden es sehr begrüßen, dass so eine hübsche Lady ihre Kinder unterrichtet. Aber jetzt sollten wir erst einmal frühstücken, in einer halben Stunde kommen die ersten Kinder.«
Eine halbe Stunde später stand Marie hinter ihrem Pult und klammerte sich mit eiskalten Händen an ein Naturkundebuch, das Isbel ihr gegeben hatte.
Ihr Magen revoltierte. Eigentlich hatte sie sich vorbereiten wollen, doch beim Frühstück hatte Mr Isbel gemeint, dass es für heute reichen würde, wenn sie ein wenig von sich und ihrer Überfahrt hierher erzählte.
Obwohl sie keine Schwierigkeiten hatte, Englisch zu sprechen, fühlte sie sich plötzlich, als wären ihr sämtliche Vokabeln entfallen. Nicht einmal gegenüber den Cree war sie so nervös gewesen. Als die ersten Kinderstimmen hereindrangen, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie erinnerte sich wieder an den Tag, als sie zum ersten Mal vor einer Klasse gestanden hatte. Damals hatte sie geglaubt, sie würde mitten im Unterricht in Ohnmacht fallen.
Marie wusste nicht, ob Isbel die Kinder vorn an der Tür bereits vorwarnte; jedenfalls verstummten sie sofort, als sie in den Raum traten, und betrachteten sie neugierig.
Marie atmete tief durch, lächelte und sagte dann in ihrem besten Englisch: »Guten Morgen, Kinder, ich bin Miss Blumfeld, eure neue Lehrerin.«
22. Kapitel
»Das ist doch gar nicht so schlecht gelaufen, oder?« Isbel lehnte lächelnd am Türrahmen.
Marie stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Ja, sogar besser, als ich erwartet hätte. Ich dachte schon, mir würden die Worte ausgehen.« Wider Erwarten war das nicht geschehen. Sie hatte sogar den Eindruck gehabt, dass die Kinder ihrer Erzählung mit Interesse gelauscht hatten. Sie hatte von ihrer Überfahrt berichtet, vom Leben an Bord, dem Treck und den Strapazen, die Auswanderer auf sich nehmen mussten, um ein neues Leben zu beginnen. Zu ihrer Überraschung waren einige Kinder darunter, die sich bestens mit der Thematik auskannten, weil sie erst vor Kurzem hier angekommen waren. Eines der Mädchen erzählte eine amüsante Anekdote von dem Piano, das ihre Mutter in die neue Heimat hatte mitnehmen wollen, ein anderes berichtete über die Zustände in ihrer Heimat, die Marie sehr nachdenklich stimmten. Schließlich waren auch die Indianer zur Sprache gekommen, und die Auffassungen der Schüler darüber waren ganz unterschiedlich. Während die Älteren teilweise recht abschätzige Meinungen ihrer Eltern übernommen hatten, standen die jüngeren Kinder der fremden Kultur noch ganz aufgeschlossen gegenüber. Schließlich hatten sie begonnen, ein paar Worte Deutsch zu lernen, was den Schülern sichtlich Spaß machte, nachdem Marie ihnen erzählt hatte, dass sich ihre Länder doch ziemlich ähnelten.
»Ich habe gehört, wie Sie ihnen Ihre Sprache beigebracht haben. Sie hätten eigentlich auf Deutsch weitermachen können, so begeistert, wie die Kinder alles wiederholt haben.«
Marie lachte auf. »Dann hätte mich aber niemand verstanden. Das deutsche Vokabular besteht aus mehr als bitte, danke, Guten Tag und Auf Wiedersehen.«
Isbel stimmte ihr zu. »Aber die Zeit wird kommen, dass man Sie versteht, da bin ich sicher. Und ich glaube, im gesamten County wird keine Schule Deutsch als Fremdsprache anbieten können. Selbst ich würde das gern erlernen, um endlich all die Klassiker Ihres Landes im Original lesen zu können.«
»Ich bringe es Ihnen gern bei«, entgegnete Marie ein wenig verlegen.
»Darauf habe ich ehrlich gesagt gehofft. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, fangen wir gleich damit an.«
Marie hob überrascht die Brauen. »Meinen Sie das im Ernst?«
»Warum nicht? Ich bitte Allison nur schnell, uns einen Tee zu kochen, dann legen wir los.«
Wie auf Wolken schwebte Marie die Main Street entlang und erstaunte viele Menschen mit ihrem entrückten Lächeln. Besser hätte der erste Tag nicht laufen können! Als sie James Isbel bei einer wirklich guten Tasse Earl Grey einige deutsche Worte und Redewendungen beigebracht hatte, war ihre Befangenheit schnell verschwunden. Sie hatten gemeinsam über Fehler gelacht und einhellig festgestellt, dass es sich lohnte, Deutsch zu lernen, obwohl es eine ziemlich schwierige Sprache war.
Angesichts von Stellas
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