Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Haus war es mit Maries Hochgefühl allerdings bald schon wieder zu Ende. Das schlechte Gewissen versuchte ihr einzureden, dass es besser gewesen wäre, sich erst einmal mit dem Haus und seinen Bewohnern vertraut zu machen. Doch das Gefühl, endlich wieder zu unterrichten, war einfach überwältigend gewesen.
Als sie durch die Haustür trat, erwartete sie fast schon, dass Rose wieder hinter irgendeiner Ecke hervorspringen würde. Doch alles blieb still. War Stella nicht da? Marie lauschte mit angehaltenem Atem. Obwohl keine Geräusche zu vernehmen waren, hatte sie doch das Gefühl, dass jemand hier war. Als sie ihren Rock glatt strich, wurde sie sich wieder bewusst, dass sie das Kleid von Allison Isbel trug. Stella würde wissen wollen, woher sie es hatte. Da sie kein Geld besaß, würde sie zugeben müssen, dass sie sich das Kleid ausgeliehen hatte. Dem wollte sich Marie nicht aussetzen, also schlich sie so leise wie möglich die Treppe hinauf.
Sie wusste genau, dass sie es eines Tages zugeben musste, aber sie wollte sich den heutigen schönen Tag nicht verderben.
In ihrem Zimmer angekommen zog sie sich rasch um und strich dann gedankenvoll über den weichen Stoff des Rockes.
Tue ich das Richtige?, fragte sie sich erneut. Was, wenn es nicht meine Bestimmung ist zu heiraten, sondern zu unterrichten? Doch Jeremy hatte für ihre Reise gezahlt, und es kam nicht in Frage, die Verlobung mit ihm zu lösen.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. »Marie, bist du da?«
Offenbar hatte Rose sie doch gehört. Marie blickte zu ihrem Kleid. Noch sollte sie es nicht sehen, also verstaute sie es rasch in ihrem Kleiderschrank.
»Ja, ich bin da. Komm rein!«
Als Rose eintrat, blickte sie sich neugierig um. Zu spät fiel Marie ein, dass sie sie vielleicht schon zum Essen erwarteten.
»Meine Mutter lässt fragen, ob du uns heute Abend zu den Woodburys begleitest«, begann Rose, während sie verlegen ihre Hände knetete. »Sie sind gute Freunde unserer Familie. Es wäre eine gute Gelegenheit, dich dort vorzustellen, sie brennen schon darauf, Jeremys Verlobte kennenzulernen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, entgegnete Marie und dachte gleichzeitig darüber nach, ob sie das blaue Kleid doch tragen sollte.
»Gut.« Rose wirkte fast erleichtert. »Wenn du möchtest, leihe ich dir ein Kleid. Du willst bestimmt nicht in diesem gehen.«
»Das wäre sehr freundlich.«
»Dann komm mit, du kannst dir eines aussuchen.«
Mit einem Stein im Magen folgte Marie Rose in ihr Zimmer. Die Korridore wirkten auf einmal enger und dunkler, als sie sie vom ersten Mal in Erinnerung hatte. Ihr war reichlich mulmig zumute. Natürlich musste sie eines Tages Freunden der Familie vorgestellt werden, doch sicher würde Stella ihren Freunden neben den Fakten auch bereits ihre Vermutungen über das zukünftige Familienmitglied mitgeteilt haben.
Roses Zimmer war, obwohl sie andere Möglichkeiten hatte als Marie, recht schlicht eingerichtet und wirkte insgesamt ziemlich freudlos, so als hätte Stella peinlich darauf geachtet, dass ja kein Funke Fantasie in den Kopf ihrer Tochter geriet. Der Schrank und das Bett waren sehr einfach, der kleine runde Spiegel von einem einfachen Holzrahmen umgeben. Die Vorhänge waren in einem bleichen Cremeton gehalten und die Rosen auf der Tapete verblasst. Auf dem sauberen, aber abgetretenen Teppich fanden sich noch die Abdrücke von Möbeln, die irgendwann einmal verschoben worden waren.
Nicht einmal ihre eigene Unterkunft verströmte eine derartige Trostlosigkeit.
»Wie alt bist du eigentlich, Rose?«, fragte Marie, denn sie hatte Mühe, Aunties Tochter einzuschätzen. Eigentlich müsste sie in ihrem Alter sein, wenn nicht sogar etwas jünger, doch ihre triste Kleidung ließ sie älter wirken.
»Einundzwanzig«, antwortete sie, während sie zwischen den Kleidern wühlte.
»Und hast du schon einen Bräutigam?«
Rose stockte kurz, dann suchte sie weiter. »Nein, bisher nicht. Aber Mutter denkt, dass sich beim nächsten Tanzfest etwas arrangieren lässt.«
»Arrangieren?« Marie hätte beinahe gefragt, ob sie sich den Bräutigam nicht selbst aussuchen wollte, als ihr einfiel, dass sie selbst ebenfalls eine arrangierte Ehe eingehen würde.
»Ja, der Sohn von den Hansons hat Interesse an mir bekundet.« Als Rose aus dem Schrank wieder auftauchte, hielt sie ein schwarzes Taftkleid in der Hand. Es war ein wenig zerknittert, und von einem der Ärmel baumelte ein Stück Spitze herunter.
Marie musste schlucken.
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