Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Natürlich hatte sie nicht so ein Kleid wie von Allison erwartet, aber das hier sah eher so aus, als sei es dazu gedacht gewesen, demnächst weggeworfen zu werden.
»Du solltest am besten Schwarz tragen, wegen Jeremys Mutter«, sagte Rose, als sie ihr das Kleid in die Hand drückte, das einen leichten Mottenkugelgeruch verströmte. »Ich bringe dir Nadel und Faden, damit du es ausbessern kannst, und in der Küche steht schon das Bügeleisen bereit.«
Wieder in ihrem Zimmer angekommen, breitete Marie das Kleid auf dem Bett aus. Über den altmodischen Schnitt hätte sie noch hinwegsehen können, doch das Kleid musste nicht nur ausgebessert werden, sondern auch enger genäht werden. In der Zeit, als Rose es getragen hatte, musste sie etliches mehr gewogen haben.
Wie viel Zeit mochte sie haben, bis Stella zum Besuch aufbrechen wollte? Und wo war die Tante überhaupt?
Wenig später brachte Rose Garn und eine Nadel.
»Du weißt doch sicher, wie man näht?«, fragte sie ein wenig unsicher.
»Natürlich«, antwortete Marie. »Ich habe stets meine Kleider selbst ausgebessert.« Eigentlich hätte Rose das an Maries Kleid sehen können. »Wann möchte Mrs … ich meine Auntie aufbrechen?«
»Gegen sieben.«
»Aber das ist ja schon in einer Stunde!«, platzte es aus Marie heraus, als sie auf das tickende Ungetüm neben dem Fenster blickte.
»Nun ja, ich hätte es dir eher gesagt, wenn du hier gewesen wärst.«
Marie unterdrückte ein Schnaufen. Natürlich! Stella musste auch gerade an dem ersten Tag ihrer Anstellung eine Einladung annehmen.
»Ich werde es schon hinbekommen«, sagte Marie mehr zu sich selbst als zu Rose.
»Ich glaube, es würde reichen, wenn du die Spitze annähst und es dann bügelst.«
Damit die Woodburys denken, dass ich eine Landpomeranze bin?, spottete Marie im Stillen, dann lächelte sie Rose an. »Keine Sorge, ich bin rechtzeitig fertig.«
Nachdem Rose gegangen war, ließ sich Marie seufzend auf ihr Bett sinken und begann mit dem Annähen der Spitze. Das war noch der leichteste Teil, das Ändern der Wiener Nähte am Oberteil würde wesentlich schwieriger sein. Sehnsuchtsvoll wanderte ihr Blick zum Kleiderschrank. Doch abgesehen davon, dass sie das Geschenk von Allison Isbel noch nicht offenbaren wollte, wäre die Farbe nach Stellas Ansicht wohl unpassend gewesen. Einen Streit wollte Marie bei dem Besuch nicht riskieren. Als die Wanduhr halb sieben schlug, war sie kurz davor, das Kleid in die Ecke zu werfen und trotzig ihr eigenes, zerschlissenes zu tragen. Doch dann endlich bekam sie den Dreh raus, und als sie sich das Kleid rasch überwarf, fand sie, dass es gar nicht mal so schlecht aussah. Lediglich der Mottenkugelgeruch stach ihr unangenehm in die Nase.
Mit dem Kleid eilte sie schließlich in die Küche, wo sie im Gewürzregal nach etwas suchte, mit dem sie den Geruch ein wenig vertreiben konnte. Weder auf Roses Kommode noch im Bad hatte sie Parfum entdeckt.
Marie war nicht sicher, ob der Rosmarin, den sie in einem der Glasbehälter fand, wirken würde, aber einen Versuch war es ihr wert. Sie wickelte die Zweige in ein feuchtes Tuch und hob dann das schwere Bügeleisen vom Herd. Kaum hatte das Eisen das Rosmarin-Tuch berührt, breitete sich ein angenehmer Duft aus – eine leise Erinnerung an die Zweige, die Onawah ins Feuer gehalten hatte, während sie krank war.
Obwohl sie sich erst vor knapp drei Wochen von der Heilerin verabschiedet hatte, erschien es ihr, als sei seit der Zeit bei den Cree eine Ewigkeit vergangen.
»Na, wie sieht es aus?«
Wieder einmal schaffte es Rose, Marie zu erschrecken. Nur knapp verfehlte Maries Hand die heiße Fläche des Bügeleisens. Ihren Schrecken unterdrückend, stellte sie das Eisen vorsichtig auf den Herd zurück.
»Ich bin fertig«, antwortete Marie, als sie das mittlerweile trockene Rosmarintuch unter dem Kleid hervorzog.
Rose hatte sich bereits umgezogen, doch ihr Kleid sah keinen Deut besser aus als das von Marie. Der weiße Spitzenkragen wirkte nicht so sauber und gestärkt, wie er sollte, der schwarze Taft wirkte stumpf, als sei das Kleid schon hunderte Male getragen worden. Hatte Rose es vielleicht von ihrer Mutter bekommen?
Das Haus der Woodburys lag etwas außerhalb der Stadt, weshalb Marie froh war, dass sich Stella für die Kutsche entschieden hatte, denn bereits jetzt schwitzte sie in dem schwarzen Kleid ganz furchtbar – und das, obwohl die Abendluft eigentlich recht erfrischend war.
Vielleicht lag es auch nur daran, dass Aunties
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