Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Blicke sie durchbohrten wie Stecknadeln einen Käfer. Wann wird sie je aufhören, mich bei allem zu beobachten, fragte sich Marie, während sie ihre Hände sittsam übereinanderlegte und versuchte, so gerade wie möglich zu sitzen, um ja keinen Anlass zum Tadel zu geben.
Nachdem sie die Main Street hinter sich gelassen hatten, tauchte in der Ferne ein Anwesen auf, das Marie in Erstaunen versetzte. »Die Woodburys sind eine sehr anständige und gut situierte Familie«, erklärte Stella, als hätte sie Marie ihre Frage von der Stirn abgelesen. »Vor vielen Jahren hat der Großvater, James Woodbury, eine Goldader aufgetan, die dermaßen viel Gewinn abwarf, dass er dieses Anwesen und die dazugehörige Farm errichten konnte. Du solltest wissen, Marie, dass mein Vater ein sehr guter Freund seines Sohnes war. Glücklicherweise hat sich die gute Bekanntschaft zwischen uns erhalten.«
Marie bemerkte die unterschwellige Mahnung, ja nichts zu tun, was dieses Verhältnis zerrütten könnte. »Keine Sorge, Auntie, ich werde euch keinen Grund zur Klage geben.«
Als die Kutsche auf das Rondell vor der Eingangstür rollte, hielt Marie überwältigt den Atem an. Was für ein prachtvolles Haus! Bislang hatte sie so etwas nur auf englischen Gemälden bewundern können. Vor lauter Staunen bekam Marie nicht mit, dass sich ihnen ein Stallknecht näherte, der den Kutschenschlag öffnete. Erst als Rose ihr in die Seite knuffte, wandte sie sich von den hohen Fenstern und den kleinen Figuren auf dem Dachsims ab.
Die hohe Freitreppe führte zur Eingangstür, die von schlanken Säulen flankiert wurde. Im Lichtschein, der aus dem Haus drang, erschien eine Frauengestalt mit einem sehr breiten Reifrock, begleitet von einem schwarz gekleideten Mann, der sich als waschechter Butler entpuppte.
»Stella, wie schön, dich zu sehen!«
Die Frau, die Auntie entgegenflog und sie umarmte, war etwas jünger als sie und wesentlich eleganter gekleidet. Ihr vormals kräftig rotes Haar war von breiten weißen Strähnen durchzogen, was ihre Ausstrahlung majestätisch erscheinen ließ. Die schlichtere Aufmachung ihrer Freundin schien sie nicht zu stören.
»Ich freue mich auch, Sophia. Wird George heute Abend zugegen sein?«
»Aber natürlich! Ich habe darauf bestanden, dass er sich einmal von der Arbeit loseist und einen gemütlichen Abend mit uns verbringt!«
Nachdem ihr Blick über Rose gestreift war, die artig knickste, wandte sie sich Stella zu – allerdings nicht, ohne zuvor einen prüfenden Blick auf Marie zu werfen.
»Wie geht es Jeremy? Ich sehe ihn gar nicht mehr.«
»Seine Pflichten erlauben es ihm auch heute nicht mitzukommen. Leider ist vorhin die alte Mrs Cooks verstorben, und er muss den trauernden Angehörigen beistehen.«
»Dann sei er entschuldigt. Wie ich sehe, hast du Ersatz mitgebracht. Wer ist die junge Dame?«
Marie straffte sich unter Sophias Blick und lächelte leicht.
»Das ist Miss Marie Blumfeld, die Verlobte meines Neffen. – Marie, das ist Sophia Woodbury, meine beste und älteste Freundin.«
Auch Marie wurde nun eine Umarmung zuteil.
»Jeremy hat sich verlobt?« Ehrliches Erstaunen trat in Sophias Blick, als sie von Marie abließ und sie gründlich musterte. Ebenso wie die Isbels schien auch sie nicht damit gerechnet zu haben, dass Reverend Plummer jemals heiraten würde.
»Ja, schon vor ein paar Monaten.« Auf einmal wirkte Stella verlegen. Zu gern hätte Marie gewusst, welcher Gedanke hinter dem Blick stand, den sie ihrer Tochter zuwarf. »Wir haben allerdings die Hochzeit verschoben wegen des Todes von Maggie.«
Die Betroffenheit, die auf Sophias Miene trat, zeugte davon, dass es die Frau gewohnt war, sich blitzschnell auf alle Stimmungen ihres Gegenübers einzustellen.
»Deine Schwägerin war wirklich tapfer. Zu schade, dass sie die Hochzeit nicht mehr miterleben darf.«
Jetzt wandte sich Sophia an Marie. »Sie tragen einen nicht alltäglichen Namen, Miss Blumfeld. Darf ich fragen, wo Ihre Wurzeln liegen?«
»Ich komme aus Deutschland«, antwortete Marie. »Ich bin leider erst vor Kurzem hier angekommen. Es hatte einen … Zwischenfall auf der Reise gegeben.«
»Einen Zwischenfall?« Sophia blickte fragend zu Stella, die peinlich berührt auf ihren Rocksaum blickte.
Wenig später spürte Marie Sophias Hand an ihrem Arm. »Davon müssen Sie mir unbedingt erzählen. Man hört allerhand furchtbare Dinge von diesen Auswanderertrecks. Waren Sie auf einem von diesen Trecks?«
Gibt es denn eine andere
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