Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
mein Kopf zur Seite geschleudert wurde, glaubte ich, dass etwas darin reißen würde. Stöhnend sank ich zu Boden. Auf dem linken Ohr konnte ich auf einmal nichts anderes hören als den dumpfen Nachhall des Schlages, und vor meinen Augen drehte sich alles wild. Ich kniff die Augen zu und betete leise, dass es vorübergehen möge, als ich plötzlich verzerrt hörte, wie jemand zur Tür hereinstürmte.
»Vater!«
Da ich noch immer die Augen zusammenkniff, wusste ich nicht, was mein Vater jetzt tat. Aber wenig später spürte ich Hände an meinem Rücken. Peters Hände. Das, was er zu mir sagte, verstand ich nicht, weil es in meinem schmerzenden Ohr noch immer rauschte, aber endlich konnte ich weinen. Auch wenn ich glaubte, mir würde der Kopf platzen.
23. Kapitel
Drei Wochen nach ihrem ersten Tag an der Selkirk-School stand der jährliche Elterntag an, eine von James Isbel eingerichtete Möglichkeit für die Mütter und Väter, sich über die Leistungen ihrer Sprösslinge zu informieren und den Lehrern Fragen zu stellen.
Marie war deswegen derart nervös, dass sie am Morgen keinen Bissen hinunterbekommen konnte.
»Sie sind so blass, stimmt etwas nicht, meine Liebe?« Allison Isbel sah sie beim gemeinsamen Frühstück besorgt an.
»Nein, nein, es ist alles gut.«
»Sie hat nur Angst vor den Eltern«, klärte James auf, der hinter seiner Morgenzeitung hervorschaute.
»Mein Mann ist so voll des Lobes, dass Sie eigentlich nichts zu befürchten haben dürften, Marie. Warum sollten die Eltern anderer Meinung sein?«
Mit Unbehagen erinnerte sich Marie an einen Vater, der den Nutzen eines Herbariums nicht hatte einsehen wollen, damals an ihrer kleinen Dorfschule. Noch hatte sie mit den Kindern keines angelegt, aber dafür ein paar schlechte Noten verteilen müssen.
»Ich weiß aus Erfahrung, dass manche Eltern den Lehrer als Bedrohung für ihre Kinder ansehen. Sie glauben, man würde ihren Sprösslingen nur unnützes Zeug beibringen.«
»Und sie zu schlecht benoten«, setzte James hinzu, faltete die Zeitung und legte sie neben den Teller. »Aber das müssen Sie gelassen nehmen und vor allem gute Argumente einsetzen.«
»Sie können mir nicht zufällig sagen, welche Geschütze die Eltern auffahren werden?« Marie überlegte, ob sie noch eine Tasse Kaffee trinken sollte, als Allison ihr bereits nachschenkte. »Den werden Sie brauchen, der macht Ihre Nerven stark.«
»Viele der Schüler in diesem Jahr sind neu, besonders in Ihrer Klasse. Ich kann Ihnen leider keine wertvollen Hinweise geben, aber ich versichere Ihnen, dass es mir meine Schwerenöter auch nicht leichter machen. Glauben Sie mir, jedes Jahr die gleichen Beschwerden und Ausflüchte zu hören, ist ziemlich ermüdend. Manchmal wünschte ich mir, sie würden einmal mit etwas Originellerem anrücken oder etwas anderes bemängeln. Aber alle Eltern sind irgendwie gleich, das werden auch sie noch herausfinden.«
Als sie sich nach dem Frühstück ins Klassenzimmer begab, überfiel Marie leichte Schwermut. Das Eheglück der Isbels zu beobachten, versetzte ihr in letzter Zeit immer häufiger einen Stich. Wird es bei Jeremy und mir irgendwann auch so sein?, fragte sie sich beklommen, während sie ihre Bücher auf Kante legte und die Diktathefte, die später ausgeteilt werden würden, alphabetisch ordnete.
Zu ihrem Bedauern hatte sich seit ihrem ersten Zusammentreffen mit ihrem Verlobten nicht viel zwischen ihnen geändert. Jeremy kam abends vorbei, manchmal zum Essen, manchmal auch erst später. Stets unterhielten sie sich höflich über den Lauf des Tages und das Geschehen in der Stadt. Immer wieder ertappte sich Marie dabei, dass sie sich wünschte, er würde sie endlich einmal berühren oder irgendetwas anderes tun, aber nichts geschah. Die Spaziergänge um die Kirche und ums Pfarrhaus, die sie manchmal unternahmen, wären eine gute Gelegenheit gewesen, doch stets hielt sich Jeremy auf Distanz.
»Es liegt sicher daran, dass er noch um seine Mutter trauert«, beschwichtigte sie Rose, als sie sich ihr zaghaft anvertraute. »Du wirst sehen, er kann ziemlich lustig sein und wird einen guten Ehemann abgeben.«
Das nützte ihr recht wenig, wenn sie nachts gegen die Zimmerdecke starrte und sich eingestehen musste, dass ihr die Aussicht, Lehrerin zu bleiben, wesentlich besser zu gefallen begann, als Ehefrau eines so kühlen Mannes zu sein, der sie in seiner Wesensart immer mehr an ihren Vater erinnerte.
Kinderstimmen fegten ihre Überlegungen hinweg. Billy und
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