Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
zwei Augen übrig, die schmerzerfüllt durch einen schmutzigen Verband schauten. Ich konnte nicht glauben, dass dies Männer waren, die vor wenigen Monaten in den Kampf für den Kaiser gezogen waren. Diese Männer hatten ihr Leben behalten, aber für ihre Familien waren sie doch verloren. Ihre Gliedmaßen würden nicht mehr nachwachsen, ihre Gesichter nicht wiederhergestellt werden können. Und ich wollte mir gar nicht vorstellen, was unter der Haut alles versehrt worden war. Nicht nur die Bibel sprach von der Seele, auch unser Schulmeister behauptete in Naturkunde, dass die Seele inmitten des Körpers läge und verletzt werden könnte – woher sollten sonst all die Geisteskranken auf der Welt kommen?
Nachdem diese Männer an dem Garten, in dem ich gerade arbeitete, vorüber waren, war es, als würde mich eine Hand voranstoßen. Ich rannte ins Haus, ohne, wie es von Vater immer wieder gefordert wurde, meine Schritte zu mäßigen.
So kühn, sein Arbeitszimmer zu betreten, ohne vorher geklopft zu haben, war ich zwar nicht, aber ich ließ nur einen Atemzug nach dem Klopfen verstreichen, ehe ich die Klinke herunterdrückte.
Gebeugt saß mein Vater vor seinem Schreibtisch. Das Kratzen seines Federhalters hallte beinahe überlaut durch den ansonsten stillen Raum. Eine Uhr hatte Vater hier nicht, er verließ sich auf seine von seinem Großvater geerbte Taschenuhr, die in seiner Westentasche ruhte.
»Vater!« So gut es ging, reckte ich mich und sah ihn herausfordernd an.
Mein Vater jedoch schaute weiterhin auf sein Schreibpult. »Was gibt es, Marie?«
»Hast du die Versehrten gesehen, die gerade an unserem Haus vorbeigekommen sind?«
»Das habe ich.«
Eine Pause trat ein. Dass er keine Gefühle zeigte, waren wir von unserem Vater gewohnt. Aber etwas in ihm musste doch Mitleid fühlen! Immerhin war er ein Mann der Kirche, und sein Mitleid versagte doch nicht, wenn er anderen Menschen Trost zusprach und ihnen Hoffnung verkündete. Warum war er nur bei uns so?
»Was gibt es noch?«, fragte er, als er merkte, dass ich noch nicht zufrieden war.
»Es geht um den Schmuck von Mutter.«
Noch immer legte er seinen Federhalter nicht beiseite. Das Kratzen der Feder machte mich mittlerweile wütend. Konnte er mich nicht ansehen, wenn ich mit ihm redete?
»Was ist mit dem Schmuck?«, fragte er schließlich, als er merkte, dass er mich durch Schweigen nicht vertreiben konnte.
»Ich möchte nicht, dass du ihn spendest.«
Diese Worte brachten ihn endlich dazu, aufzusehen und den Federhalter mit einer bedächtigen Geste beiseitezulegen.
»Wiederhol das doch bitte.«
Mir war klar, dass in diesem Haus niemand außer ihm etwas zu wollen hatte. Also wiederholte ich mein Anliegen etwas bedächtiger.
»Ich bitte dich, spende den Schmuck nicht für den Krieg.«
Dass ich sanfter sprach, stimmte ihn keineswegs gnädiger. Seine Augen musterten mich kalt, als er entgegnete: »Und warum sollte ich das deiner Meinung nach nicht tun?«
»Weil es noch mehr Leid bringen würde. Du hast die Versehrten gesehen. Was würdest du tun, wenn es Peter wäre? Wenn er Soldat werden müsste und ein Bein verlieren oder sterben müsste?«
»Dann wäre das Gottes Wille.«
Vergeblich suchte ich nach einem Anzeichen, dass er es nicht so meinte.
»Du sagst doch selbst, dass es eine Sünde ist, Menschen zu töten. Der Kaiser ist demnach der größte Sünder, denn er führt den Krieg nur, um seinen Reichtum zu mehren. Alle Kriege werden nur um Reichtum geführt, alles andere ist eine Lüge!«
Die Miene meines Vaters verfinsterte sich zusehends. Dennoch war seine Stimme leise, als er antwortete: »Es ist eine Sünde, dem Kaiser zu unterstellen, er würde den Krieg aus unehrenhaften Motiven führen! Und der Schmuck geht dich nichts an, darüber habe ich als Witwer zu befinden und nicht du!«
»Du musst gerade von Sünde sprechen!«, explodierte ich regelrecht. Keine Ahnung, warum ich auf einmal meine Beherrschung verlor, doch plötzlich überkam mich das unbändige Verlangen, ihn zu reizen, ihm sogar wehzutun. All der Zorn, der sich über die Jahre angestaut hatte, entlud sich mit einem Mal. »Was war denn in jener Nacht mit Luise? Du warst es doch, der ihr das Kind gemacht hat! Du warst doch derjenige, der sie fortgeschickt hat und schuld war an ihrem Tod. Und jetzt versetzt du Mutters Schmuck, um den Krieg weiter anzuheizen, und redest davon, dass das Töten von Menschen ehrenhaft sei.«
Der Schlag war heftig und traf mich hart am linken Ohr. Während
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