Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
dieser Ort bei Tageslicht aussehen musste. Sicher boten die farbenprächtigen Rosen und der Brunnen einen grandiosen Anblick.
Um nicht länger dem Gespräch zwischen Stella und Sophia lauschen zu müssen, setzte sie sich ein wenig ab und strebte einer Marmorskulptur zu, die sich zwischen Ginsterbüschen erhob. Sie zeigte ein Mädchen, das neben sich einen Hund oder Wolf sitzen hatte. Fasziniert von der wunderschönen Verarbeitung und den reichen Details konnte Marie nicht widerstehen. Unter ihren Fingern fühlte sich der Marmor glatt und kühl an. Selbst mit geschlossenen Augen konnte sie die Rosen ertasten, die aus dem Korb des Mädchens ragten.
»So so, der gute Jeremy will also heiraten.«
Marie wirbelte erschrocken herum. Sie hatte George Woodbury nicht kommen gehört.
»Oh, habe ich Sie erschreckt, Miss? Ich bin untröstlich.« Dass er das nicht war, verriet das schelmische Blitzen in seinen Augen.
»Nein, ich war nur in Gedanken«, entgegnete Marie ein wenig unbehaglich, während sie nach Stella Ausschau hielt. Doch von Auntie und ihrer Tochter war ebenso wenig zu sehen wie von Sophia.
Das schien auch George zu wissen, denn seine Blicke tasteten Marie geradezu unverschämt ab.
»Eine Frau, die in der Lage ist, selbstständig zu denken, ist der beste Fang, den ein Mann machen kann. Gleichzeitig ist es die größte Gefahr, denn eine frei denkende Frau lässt sich nicht so einfach beherrschen.«
Als er einen Schritt auf sie zumachte, wich Marie zurück. Vor ihm die Flucht ergreifen wollte sie aber auch nicht.
»Ich glaube kaum, dass Jeremy vorhat, mich zu beherrschen. Er erlaubt mir sogar, dass ich meinem Beruf nachgehe.«
»Kein Zweifel, er ist ein braver Junge. Und sehr empfindsam dazu.«
»Was meinen Sie damit?«
George lächelte hintergründig. »Es ist doch seltsam, dass er so lange gebraucht hat, eine Frau zu finden. Er sieht nicht schlecht aus, und mit Ende dreißig sollte man doch eigentlich seine Schüchternheit abgelegt haben.«
Unbehagen erfasste Marie. Auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie Steine anstelle des Bratens gegessen. Am liebsten wäre sie ins Haus zurückgelaufen, doch sie stellte fest, dass sie zwischen Rosenbüschen und George Woodbury gefangen war.
»Nicht jeder Mann ist ein Draufgänger, Mr Woodbury!«, entgegnete Marie, während sie über Georges Schulter spähte, in der Hoffnung, dass Stella oder Sophia auftauchen würde. Oder Rose, die ihr ohnehin stets nachspionierte. »Außerdem kennen Jeremy und ich uns noch nicht wirklich, wie Sie vielleicht dem Gespräch entnommen haben.«
In Georges Augen blitzte es. »Möglicherweise ist Jeremy aber auch gar nicht an einer richtigen Ehe interessiert, sondern eher an der Wahrung seines Rufs.«
Marie ballte die Fäuste. Sie hatte verstanden, worauf er hinauswollte. »Wie können Sie so etwas behaupten!«
»Ich kenne Ihren Bräutigam sehr gut, ich würde sogar behaupten, von Kindesbeinen an. Er war schon immer an anderen Dingen interessiert als gewöhnliche Jungen. Aus diesem Grund ist er wohl auch Geistlicher geworden.«
»Von einem Geistlichen erwartet niemand, dass er heiratet.«
»Oh doch, Miss Blumfeld, hier schon. Und Sie selbst sind, wenn ich mich nicht verhört habe, Tochter eines Geistlichen. Wenn man nicht gerade ein Sklave Roms ist, wird sehr wohl erwartet, dass ein Reverend heiratet. Sie können mir glauben, die ganze Stadt schielt schon lange auf Jeremy.«
Maries Befürchtung, dass das Gespräch noch unangenehmer werden würde, bewahrheitete sich, denn George fuhr mit einem unverschämten Lächeln fort. »Seine Mutter hat sich gewünscht, er würde eines Tages Kinder haben. Vermutlich hat er es ihr auf dem Sterbebett versprochen.«
»Und was ist falsch daran?« Marie wurde immer unbehaglicher zumute. Es irritierte sie zutiefst, dass dieser Mann so viel zu wissen schien, während er selbst überaus schlecht einzuschätzen war.
»Nichts.« Unvermittelt griff George nach einer ihrer Haarsträhnen. »Wollen wir nur nicht hoffen, dass der Wunsch der guten alten Maggie unerfüllt bleibt.«
Unangenehmes Schweigen senkte sich auf sie.
»Ich muss gehen«, sagte Marie, doch als sie herumwirbelte, hielt George sie fest und zog sie an sich.
»Mr Woodbury!«, rief Marie empört.
»Keine Angst, meine Liebe, ich werde Ihnen nichts tun. Jedenfalls nichts, was Sie nicht auch wollen.« Sein weingeschwängerter Atem strich über ihr Gesicht. Der Wein musste auch der Grund sein, warum er seinen Anstand vergaß!
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