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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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verletzen. Aber die Pest muss ein Ende haben. Gib das Mädchen seinem Vater zurück. Damit ist es getan.«
    Agamemnon schien vor Wut zu platzen. »Ich durchschaue dich, Achill. Weil du der Sohn einer Meeresnymphe bist, glaubst du, das Recht zu haben, dich über mich zu erheben. Du hast noch nicht verstanden, welchen Platz du unter den Menschen einnimmst.«
    Achill wollte etwas sagen.
    »Schweig still!«, herrschte Agamemnon ihn an. »Ein Wort noch, und du wirst es bereuen.«
    »Bereuen?« Achill rührte keine Miene. Er sprach leise, aber gut vernehmlich. »Hoher König, ich glaube nicht, dass du mir drohen kannst.«
    »Willst du etwa mir drohen?«, brüllte Agamemnon. Und an seine Männer gewandt: »Habt ihr ihn nicht auch drohen gehört?«
    »Ich drohe nicht. Aber was, so frage ich, wären deine Streitkräfte ohne mich?«
    Agamemnons Gesicht war von Boshaftigkeit entstellt. »Du hast dir schon immer allzu viel eingebildet«, blaffte er. »Wir hätten dich da zurücklassen sollen, wo wir dich gefunden haben, versteckt hinter den Röcken deiner Mutter. Du selbst in einem Rock.«
    Die Männer horchten verdutzt auf und tuschelten untereinander.
    Achill ballte die Fäuste. Er hatte offenbar Mühe, Fassung zu bewahren. »Du willst von dir ablenken. Wie lange hättest du dem Sterben untätig zugesehen, wenn nicht diese Versammlung einberufen worden wäre? Antworte!«
    Agamemnon fiel ihm brüllend ins Wort. »Als all die tapferen Männer nach Aulis kamen, haben sie mir auf Knien Treue geschworen. Alle, nur du nicht. Ich finde, wir haben deine Überheblichkeit lange genug ertragen müssen. Es ist Zeit – höchste Zeit«, äffte er Achill nach, »dass auch du mir Treue schwörst.«
    »Ich muss dir keine Treue schwören. Keinem von euch.« Achills Stimme klang kühl. Er hatte sein Kinn erhoben. »Ich bin aus freien Stücken hier, und darüber kannst du froh sein. Nicht ich bin es, der niederknien sollte.«
    Damit war er zu weit gegangen. Ich spürte die Stimmung der Männer schwanken. Agamemnon witterte seine Chance. »Hört ihr, wie stolz er ist?« Und an Achill gewandt: »Du wirst nicht niederknien?«
    Mit steinerner Miene antwortete Achill: »Nein, das werde ich nicht.«
    »Dann bist du ein Verräter und wirst wie ein solcher bestraft. Deine Kriegsbeute geht an mich und bleibt bei mir, bis du dich mir unterwirfst und Gehorsam leistest. Fangen wir mit diesem Mädchen an. Wie war noch gleich ihr Name? Brisëis? Sie wird für das Mädchen büßen, das du mich zurückzugeben zwingst.«
    Mir gefror das Blut in den Adern.
    »Brisëis gehört mir«, sagte Achill und betonte jedes einzelne Wort. »Sie wurde mir gegeben von allen Griechen. Du kannst sie nicht nehmen. Wenn du es versuchst, hast du dein Leben verwirkt. Überlege dir gut, was du tust, König, bevor du dir selbst schadest.«
    Agamemnon zögerte nicht lange. Er konnte vor der Menge nicht klein beigeben. Niemals.
    »Ich fürchte dich nicht.« Er wandte sich an seine Mykener. »Bringt mir das Mädchen!«
    Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern der Fürsten. Brisëis war Kriegsbeute und Verkörperung der Ehre Achills. Indem er sie nahm, verweigerte Agamemnon dem tapfersten Kämpfer die gebührende Anerkennung. Ein Raunen ging durch die Menge, und ich hoffte, jemand würde Einspruch einlegen. Doch niemand sagte etwas.
    Weil er ihm den Rücken zugekehrt hatte, sah Agamemnon nicht, dass Achill zum Schwert griff. Mir stockte der Atem. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er imstande war, Agamemnon mit einem Hieb niederzustrecken, und man sah seiner Miene an, wie sehr er mit sich rang. Ich weiß nicht, was ihn letztlich zurückhielt. Vielleicht glaubte er, der König habe eine schwerere Strafe verdient als einen schnellen Tod.
    »Agamemnon«, sagte er. Die Härte in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Der König drehte sich um und schnappte erschrocken nach Luft, als Achill ihm den ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust setzte. »Was du hier und heute gesagt hast, kostet dich und deine Männer das Leben. Ich weigere mich hinfort, für dich zu kämpfen. Hektor mag dein Heer zermalmen. Ich werde dabeistehen und lachen. Und wenn du zu mir kommst und um Gnade winselst, werde ich dich zurückweisen. Sie werden alle sterben, Agamemnon, und dafür trägst du die Verantwortung.«
    Er spuckte vor Agamemnon aus und stürmte vom Podest. Schwindelnd versuchte ich, ihm zu folgen, und spürte, wie sich die Myrmidonen hinter mir in Bewegung setzten, Hunderte von Männern,

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