Das Lied des Achill
jetzt von Achill in eine Falle gelockt. Nach langem Zögern sagte er schließlich: »Ja, so ist es.« Und mit schroffem Wink an seine Wachen: »Holt Kalchas!«
Wenig später schleppten sie den Priester herbei. Er war hässlicher denn je mit seinem schütteren Bart und den strähnigen Haaren, die vor Schmutz und Schweiß starrten. Wie immer fuhr er hastig mit der Zunge über die gesprungenen Lippen, bevor er zu sprechen anhob.
»Hoher König, Prinz Achill, ihr seht mich völlig unvorbereitet. Ich hätte nicht gedacht –« Seine seltsam blauen Augen huschten zwischen beiden Männern hin und her. »Nun, ich habe nicht damit gerechnet, dass man mich aufruft, hier vor so vielen Männern zu sprechen.« Seine Stimme gebärdete sich wie ein Wiesel auf der Flucht.
»Sprich«, befahl Agamemnon.
Kalchas schien in großer Verlegenheit zu sein. Immer wieder leckte er sich die Lippen.
Achill half ihm auf die Sprünge. »Hast du die Opferriten befolgt? Hast du gebetet?«
»Ich … Ja, natürlich habe ich das. Aber –« Seine Stimme bebte. »Ich fürchte, was ich zu sagen habe, könnte jemanden verärgern. Einen, der mächtig ist und Beleidigungen nicht so schnell vergisst.«
Achill legte dem schmächtigen Priester eine Hand auf die Schulter und hielt, als der zurückzuckte, behutsam an ihm fest. »Kalchas, wir sterben. Solche Befürchtungen sind jetzt nicht angebracht. Welcher dieser Männer hier würde das, was du sagst, gegen dich verwenden? Ich täte es nicht, selbst wenn du mich als Ursache der Plage nennen würdest. Was ist mit euch?«, fragte er und schaute in die Runde. Alle schüttelten den Kopf.
»Siehst du? Keiner, der bei Verstand ist, würde einem Priester Leid zufügen.«
Agamemnon stand stocksteif hinter den beiden, allein, was ich ungewöhnlich fand. Meist waren sein Bruder, Odysseus oder Diomedes in seiner Nähe. Doch die hatten sich unter die anderen Prinzen vor dem Podest gemischt und hielten Abstand.
Kalchas räusperte sich. »Die Auguren geben zu verstehen, dass Apoll erzürnt ist.« Apoll. Ehrfürchtiges Schweigen machte sich breit.
Kalchas warf einen flüchtigen Blick auf Agamemnon und wandte sich dann wieder an Achill. Er schluckte. »Es scheint, Apoll hat Anstoß genommen, daran, wie sein ergebener Diener Chryses von uns behandelt wurde.«
Agamemnon erstarrte. Sein finsterer Blick war auf den Priester geheftet.
»Er lässt sich nur dann besänftigen«, fuhr Kalchas stammelnd fort, »wenn wir Chryseis freigeben. Außerdem müsste Agamemnon Abbitte leisten und Opfer darbringen.« Der letzte Satz war kaum zu hören, und es schien, als sei dem Priester die Luft ausgegangen.
Auf Agamemnons Gesicht zeigten sich dunkelrote Flecken. Offenbar war er der Einzige, der nicht längst ahnte, dass er selbst die Schuld an der Seuche trug. Es war plötzlich so still, dass man den Sand unter unseren Füßen knirschen hörte.
»Vielen Dank, Kalchas«, presste der König hervor und brach mit seiner Stimme das Schweigen. »Danke dafür, dass du immer gute Nachricht bringst. Das letzte Mal war es meine Tochter. Töte sie, hast du gesagt, denn es gelte, den Zorn der Göttin abzuwenden. Und jetzt willst du mich vor meinem Heer demütigen.«
Er wirbelte auf dem Absatz herum und wandte sich an seine Männer. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Bin ich nicht euer Anführer? Und sorge ich nicht dafür, dass ihr zu essen habt, gekleidet seid und geehrt werdet? Und stellt ihr, Männer aus Mykene, nicht das größte aller Heere? Das Mädchen gehört mir; sie ist mein Preis, und ich werde sie nicht herausgeben. Habt ihr vergessen, wer ich bin?«
Er legte eine Pause ein, wohl in der Hoffnung, dass ihm seine Männer zustimmen würden. Aber da war niemand, der sich für ihn aussprach. Und wieder bleckte er die Zähne.
»König Agamemnon.« Achill trat auf ihn zu. Seine Stimme klang fast heiter. »Ich bin mir sicher, niemand hat vergessen, dass du der Anführer deines Heeres bist. Du aber scheinst vergessen zu haben, dass auch wir Könige oder Prinzen oder Familienoberhäupter sind. Wir sind Verbündete, keine Sklaven.« Etliche Männer nickten, die anderen taten es nur deshalb nicht, weil sie sich nicht trauten.
»Männer sterben zuhauf, und du willst an einem Mädchen festhalten, das längst ausgelöst hätte werden müssen. Über die Seuche, die du heraufbeschworen hast, verlierst du kein Wort.«
Agamemnon schnaubte. Sein Gesicht war inzwischen purpurrot. Wie zur Abwehr hob Achill die Hand.
»Ich will deine Würde nicht
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